Das Meiste, was wir zu wissen glauben, ist purer Glaube

Wissenschaftler lehren uns Atomstruktur, Urknall, antike Geschichte, Evolution, Wettermodelle, Geld- und Managementtheorien, etc. Alles ist reiner Glaube, der allenfalls von mehr oder weniger einleuchtenden Indizien gestützt wird.

Bis vor ca. 15 – 20 Jahren galten Gefühle als unwissenschaftlich. Dann entdeckte die Gehirnforschung, dass Gefühle für unsere Entscheidungen und Handlungen von zentraler Bedeutung sind. Der Gehirnforscher Gerhard Roth schrieb in einem Artikel über die funktionale Rolle des Bewusstseins:

Forschungsergebnisse zeigen, daß es keine Instanz im Gehirn gibt, die spontan von sich aus, …  „freie“ Handlungen initiieren kann. Der präfrontale Cortex, der von vielen Autoren als oberste Instanz der Handlungsplanung angesehen wird, steht unter dem Einfluß … [der] Basalganglien, die … eine Zensurfunktion aus[üben], bei der die geplante Handlung im Hinblick auf Erfahrung und Situationskontext bewertet wird. Dabei stehen die Basalganglien selbst wieder unter dem Einfluß weiterer limbischer Bewertungsinstanzen1

Das heisst, dass es keinen Dirigent, kein ICH gibt, das bestimmt, wie ich entscheide und handle. Es gibt Zensurfunktionen, die selbst von anderen Zentren überwacht und gesteuert werden. Das limbische System ist der Sitz der Gefühle.

Den Gefühlen stehen Glaubenssätze zur Seite, die uns zutiefst prägen. Sie sind es, die unsere Erfahrungen und Beobachtungen im Gedächtnis festhalten. Was wir wahrnehmen, verarbeiten wir in Glaubenssätze und legen diese im Gedächtnis ab; und dann ist es eines unserer höchsten Ziele, unsere Glaubenssätze immer wieder zu bestätigen. Neue Fakten akzeptieren wir eher, wenn sie unsere bisherigen Glaubsnsätze bestätigen, sonst lehnen wir sie ab.

Es scheint immer noch verpönt zu sein, Glaube in einen sachlichen Zusammenhang zu stellen, wie vor 20 Jahren Gefühle. Wer das heute dennoch tut, verwendet lieber den Begriff „Überzeugung“.

Wikipedia schreibt:

Überzeugung ist der persönliche Glaube an die Richtigkeit von bestimmten Ideen … Mit Überzeugung bezeichnet man auch den Glaubenssatz selbst, d. h. die Aussage, von deren Richtigkeit man überzeugt ist. … Überzeugung ist das Vertrauen in die grundlegende Richtigkeit der eigenen Ideen und Anschauungen. Diese ist relativ stabil gegenüber Veränderungen

Bewusste Glaubenssätze nennen wir auch Hypothesen. Ein Projektplan ist ein Beispiel für eine Hypothese. Siehe z.B: „Am Anfang steht der Glaube

Tiefer und daher oft fataler sind jedoch die Glaubensätze, die unbewusst als Erfahrung gespeichert sind und unsere intuitiven Entscheidungen beeinflussen. Achten Sie bei der nächsten politischen Diskussion oder auch nur an der nächsten Sitzung im Geschäft auf die Argumente der Sprecher! Fast jeder Satz reflektiert tief verwurzelte Glaubensprinzipien, mit denen sich die Sprecher identifizieren, die aber bei näherer Betrachtung nicht haltbar sind. Und darauf bauen wir unsere Gesellschaft, Wirtschaft und politischen Systeme auf!

Umgang mit Ungewissheit und Komplexität fängt bei dem Bewusstmachen der eigenen Glaubenssätze an!

1J.-D. Haynes, G. Roth, H. Schwegler und M. Stadler, Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten. In:  Gestalt Theory – An International Multidisciplinary Journal, 1998, S. 186-213

5 Antworten auf „Das Meiste, was wir zu wissen glauben, ist purer Glaube“

  1. Sehr geehrter Herr Anchor,
    Sie schreiben: „Bis vor ca. 15 – 20 Jahren galten Gefühle als unwissenschaftlich. Dann entdeckte die Gehirnforschung, dass Gefühle für unsere Entscheidungen und Handlungen von zentraler Bedeutung sind….
    Das heisst, dass es keinen Dirigent, kein ICH gibt, das bestimmt, wie ich entscheide und handle. Es gibt Zensurfunktionen, die selbst von anderen Zentren überwacht und gesteuert werden. Das limbische System ist der Sitz der Gefühle.“
    Ich sehe das etwas anders. Dass der Mensch Gefühle hat, von denen er gesteuert wird, wussten die Menschen schon immer. Sigmuns Freud hat bereits vor nunmehr etwa 130 Jahren die Dynamik des Unbewussten entdeckt und erforscht. Und Freud hat die „Zensur“ als unbewussten Vorgang entdeckt, der unbewusste Inhalte daran hindert, bewusst zu werden. Dennoch haben wir jederzeit die Möglichkeit, einen Handlungsimpuls nicht auszuführen und „Nein“ zu sagen, da nämlich die psychische Instanz des „Ich“ letztlich den Zugang zur Motorik hat. Auch in meiner Philosophie ist das ICH die zentrale geistige Instanz, die sich zwar im allgemeinen anpasst (Schwarmintelligenz oder -demenz), aber auch die Möglichkeit zu spontaner Alternativentscheidung hat (Freuds Modell vom Es-Ich-Über-Ich).
    So weit erst mal.
    Rudi Zimmerman

  2. Guten Tag, Herr Zimmermann

    Tja, wahrscheinlich wäre Freud der erste, der sein Modell revidierte. Er hat nämlich Zeit seines Lebens nach Möglichkeiten gesucht, neuronale Korrelate seiner Instanzen „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“ zu finden. Er träumte von der Möglichkeit, diese Instanzen direkt im Gehirn nachzuweisen. Mittlerweile sind wir soweit und …. konnten diese Instanzen nicht bestätigen. Freuds Modell ist längst überholt. Popper zählte die Psychoanalyse zu den Pseudowissenschaften und ganz allgemein wird ihr manglende empirische Verankerung vorgeworfen. Heutzutage wird Freud und die Psychoanalyse in einem Psychologiestudium mit keinem Wort mehr erwähnt.
    Das Ich ist eine reine Illusion. Unser Gehirn ist Meister darin, uns Dinge vorzugaukeln, die es gar nicht gibt, z.B. die Wahrnehmung sei mit der Welt da draussen identisch oder wir hätten so etwas wie ein Ich. Das Ich besteht aus verschiedenen Zentren, die meist gegen einander in Wettbewerb stehen. Dasjenige Zentrum, das sich gerade durchsetzt, vermittelt Ihnen die Illusion, die Entscheidung wäre Ihrem Bewusstsein entsprungen, das eine Einheit ist.
    Aber sei es, wie es ist: wie ich geschrieben habe, ist sowieso alles Glaube. Wenn Sie an ein Ich glauben, dann ist das ebenso gut, wie wenn ich an eine Illusion glaube.

    Ich wünsche Ihnen einen guten Rustch und alles Gute im 2012!
    Peter Addor

  3. Und weil wir so viele Glaubenssätze von Kindesbein eingeflößt bekommen, sind wir immer mehr zu einer Person geworden, sprich programmiert worden. Wir verhalten uns Rollen-gemäß, ohne noch großartig zu reflektieren, wer das denn so alles sagt …
    Das Schlimme an den meisten Bedeutungen ist, dass sie häufig verdreht sind. Und da Begriffe miteinander verbunden ist, kommt das Gehirn zunehmend ins Stolpern.
    Was da nur noch hilft, ist Tabulerasa zu machen und die Kernkonzepte unserer Gesellschaft zu hinterfragen und neu zu deuten. Das kommt einem Neuaufsetzen unseres Betriebssystems gleich. Armin Rütten hat dazu eine interessante Vorgehensweise entwickelt, die er in seinem kleinen Büchlein Wissensaktivierung – neue Denkwege beschreibt. Ich hatte hier dazu geschrieben:
    http://wirdemo.wordpress.com/2012/12/03/wissensaktivierung-neue-denkwege/
    Viele Grüße, Martin Bartonitz

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