Werden wir in Zukunft mehr Zeit zum Lernen haben?

In Kapitel 6 der «Digitalen Kompetenz» befassen sich Werner Hartmann und Alois Hundertpfund mit digitalen Tools und weisen auf das Dilemma hin, entweder sich im Tool-Dschungel oder den Anschluss an das digitale Zeitalter zu verlieren (1).

Das didaktische Hauptproblem

FreundeDie Lösung der didaktischen Hauptproblematik liegt jedoch nicht in der Computerisierung begründet und hat nichts mit digitaler Kompetenz zu tun. Lernen heisst

  • Fragen stellen und sie mit anderen diskutieren
  • Ideen ausprobieren, verwerfen, weiterentwickeln und sie mit anderen teilen
  • Mit ausdauernder Hartnäckigkeit forschen und experimentieren
  • Dem Scheitern zum Trotz kreativ neue Wege ersinnen
  • Vorhandenes Wissen zu neuem verknüpfen

Lernen ist also Engagement! Lernen ist eine natürliche Fähigkeit von Kleinkindern. Sobald sie in die Welt der «Produktionsprozesse» eintreten, verlernen sie es. Die Schule verlangt eine andere Fähigkeit, nämlich an den Prüfungen ein Resultat mit einer bestimmten Qualitätsanforderung zu produzieren.

Wer nur auf ein Diplom oder Zertifikat aus ist, wird das nötige Engagement, das zum Lernen vorausgesetzt ist, nicht erbringen wollen. Wie kann man Studierende in einer Welt voller Produktionsprozesse dennoch zum Lernen motivieren? Das ist das didaktische Hauptproblem.

Computerisierung der Bildungsprozesse könnte die Lösung des didaktischen Hauptproblems unterstützen, aber sie ist selber nicht die Lösung. Alle Bildungsprozesse sind auch ohne Computer machbar. Beispielsweise war mobiles Lernen schon immer möglich. Im Buch «So lernt man lernen» stellte Sebastian Leitner bereits in den frühen 1970er Jahren eine Zettel-Methode vor, mit der man unterwegs sehr effektiv lernen kann, auch ohne Smartphone oder anderen digitalen Hilfsmittel (2).

Ist der Wille zum Lernen nicht vorhanden, kann auch der beste Didaktiker mit den besten Tools nichts erreichen. Es wird wohl erst dann wieder gelernt, wenn wir endlich von der Produktionswut ablassen und uns mit weniger zufriedengeben. Dafür hätten wir mehr (Frei-)Zeit und könnten kontemplativer durch’s Leben gehen; eine gute Voraussetzung zum Lernen.

Weniger produzieren = mehr Zeit (zum Lernen)?

Mit der Computerisierung vor allem der Produktion (und weniger der Bildung) hätten wir die besten Voraussetzungen geschaffen, um mehr Zeit zum Lernen zu haben. Vermutlich wird mit dem Computer viel Arbeit wegrationalisiert, so dass die Arbeitslosenquote in den nächsten Jahrzehnten beträchtlich ansteigen wird. Das finde ich eine sehr gute Nachricht, denn es war doch schon immer der Wunsch, möglichst wenig arbeiten zu müssen und dafür viel Musse zu haben. In der Steinzeit mussten die Leute vielleicht sechs Stunden am Tag arbeiten, um die Grundbedürfnisse zu erfüllen (Nahrung, Unterkunft, Sicherheit).

Die übrigen Stunden dienten den sozialen Kontakten oder es konnte geschlafen oder gedöst werden. Natürlich gehörte zu den sozialen Kontakten das Spielen mit den Kindern oder das Zusammensein mit den Alten. Beides ordnen wir heute den Produktionsprozessen zu und nennen es «Kindererziehung» und «Altenpflege».

alteHandGerade die Altenpflege ist ein Beispiel einer Arbeit, die wohl kaum computerunterstützt gemacht werden kann. Zwar ist der Einsatz von Robotern denkbar, aber letztendlich wird immer eine zuhörende und freundliche Person gefragt sein, die den Alten bei der Hand nimmt.

Niemand weiss, wie sich der Arbeitsmarkt angesichts der Computerisierung verhalten wird. Einige rechnen mit einem sich aufschaukelnden Wirkungskreislauf. Im Zuge erhöhter Produktivität werden die Preise sinken und die Löhne steigen (sic!), wodurch sich die Nachfrage nach Gütern erhöht, was wiederum neue Arbeitsplätze schafft. Andere prognostizieren eine Massenarbeitslosigkeit, hervorgerufen durch den rasanten Fortschritt digitaler Technologien, was die Einkommensunterschiede erhöht(3).

Um die Vorteile von weniger Arbeit zu geniessen, müsste aber eine Umorganisation der Gesellschaft stattfinden. Es dürfen nicht wenige für guten Lohn arbeiten und viele für wenig Almosen herumliegen. Die wenige Arbeit müsste gleichmässig auf alle verteilt sein, wobei es nach wie vor qualifiziertere und weniger qualifiziertere Arbeit gäbe, wie immer das definiert sein mag.

Das ist eine ziemlich klare Gefangenendilemmasituation. Das soziale Optimum ist weit weg vom Nash-Gleichgewicht und wird nur unter sehr restriktiven Bedingungen angenommen. Auf die Dauer wird sich Kooperation jedoch zweifellos durchsetzen, z.B. wenn die Situation der Werktätigen nicht mehr attraktiv genug sein wird. Welche Täler der Tränen bis dahin aber durchlaufen werden müssen, bleibt dahingestellt.

(1) W. Hartmann/A. Hundertpfung. Digitale Kompetenz. Was die Schule dazu beitragen kann, hep verlag, 2015, 176 Seiten, 978-3-0355-0311-1

(2) Sebastian Leitners Lernkartei

(3) Natalie Gratwohl. Folgen der Digitalisierung: Massenarbeitslosigkeit oder viele neue Jobs? 9.12.2015

 

4 Antworten auf „Werden wir in Zukunft mehr Zeit zum Lernen haben?“

  1. Es gibt keinen Tool-Dschungel. Zum Lesen, Schreiben, Sprechen und Teilen von Informationen aller Art sind wenige, an einer Hand abzuzählende Tools notwendig. Der Computer ermöglicht das orts- und zeitunabhängige Lernen im Sinn von Prosumieren und Teilen. Dies war vor dem Smartphone zwar auch, aber nur bedingt möglich.

    Nach wie vor beeinflusst der Computer das Lernen nur am Rande – und in der Schule überhaupt nicht. Nach wie vor reden Leute übers digitale Lernen, obwohl sie vom unabdingbar damit verbundenen Handwerk kaum etwas verstehen.

  2. Den Tool-Dschungel gibt es leider doch. Zwar wären eigentlich nur wenige nötig, aber es gibt eben schon (zu) viele. Nur schon: Wie viele Kanäle müsste ich beachten auf denen Informationen hereinkommen könnten? Ich berate Kunden – wenn ich daran denke, auf wie vielen Plattformen und in wie vielen Tools ich meine Informationen zusammensuchen muss – ein Graus. Von gemeinsamem Lernen will ich hier noch nicht einmal sprechen.

  3. Oberste Prämisse für meine SchülerInnen war die smartphone-optimierte Anwendung. Da lichten sich die Reihen der Anwendungen massiv. Zudem habe ich meist für eine Aufgabe nur eine, oft aber für jede Aufgabe eine andere Anwendung zugelassen.

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