Migrations- und Integrationsprojekte sind anders

Der Standish Chaos Report erscheint seit 1994 alle zwei Jahre. Er beruht auf einer Umfrage unter mehr als 300 amerikanischen Entwicklungsunternehmen und untersucht über 8000 Projekte. Aus der Reihe der bisher erschienenen Reports geht hervor, dass der Anteil erfolgreicher Projekte bei ungefähr 28% konstant blieb, während der Anteil derjenigen Projekte, bei denen der Kosten- oder Zeitrahmen beträchtlich gesprengt wurde, zu Lasten der abgebrochenen Projekte konstant angewachsen ist. Aber es handelt sich ausschliesslich um Softwareentwicklungsprojekte. Als Grund, dass immer weniger Projekte abgebrochen werden, wird die Anwendung formaler Methoden angegeben1. Aber trotz dieser formalen Methoden – was immer das für welche sind – schiessen doch um 70% aller betrachteten Projekte an den Zielen vorbei. Als wichtiger Grund für das Scheitern von Entwicklungsprojekten ist die ungenügende Benutzereinbindung genannt. Wie soll denn das geschehen? Wie soll z. B. Microsoft die hunderten von Millionen Benutzer einbeziehen, die auf der ganzen Welt verstreut sind und in verschiedenen Kulturkreisen leben? Erhöhte Komplexität aufgrund der Globalisierung lässt grüssen. Microsoft kann nicht einmal ein signifikantes Sample von Benutzern begrüssen, das ist schlicht unmöglich. Selbstverständlich gehört eine tiefgehende Marktuntersuchung allem voran, aber von einer Benutzereinbindung kann keine Rede sein. Oder wie soll ein Hersteller von Telekommunikations- oder Bankenlösungen die Benutzer einbeziehen? Benutzer sind nämlich nicht die Betreiber, die die Lösungen kaufen und bezahlen, sondern deren ihre Kunden, also die vielen Millionen Endkunden, die telefonieren oder via E-Banking ihre Zahlungen machen.

Interessanterweise werden in der Literatur fast ausschliesslich Softwareentwicklungen untersucht, wenn es um IT-Projekte geht. Andere IT-Projekte werden eher stiefmütterlich behandelt. Dabei sollten doch auf ein Entwicklungsprojekt mehrere Dutzend Migrations- und Integrationsprojekte (MIP) folgen, denn schliesslich möchte man ja auch ausrollen, was man einmal mühsam entwickelt hat. Warum denn MIP in der Literatur ein derart steifmütterliches Dasein fristen, kann ich nicht verstehen. Es ist zu befürchten, dass sich die Zertifizierer, wie PMI und IPMA, und auch andere Herausgeber formaler Projektmanagementmethoden, an den Gegebenheiten von Entwicklungsprojekten orientieren. Aber die viel zahlreicheren MIP gehorchen anderen Gesetzen. Der mangelnde Einbezug des Kunden ist da z. B. kein Thema. Vielmehr laufen MIP die Gefahr, dass der Anwender den Hersteller zu wenig einbezieht. Es besteht momentan ein Trend weg vom Projektleiter des Herstellers. Die Anwender denken, dass es reicht, wenn sie den Projektleiter stellen. Aber wie man sich denken kann, funktioniert das nie, denn wer sorgt z.B. dafür, dass dem Projekt genügend Expertise seitens Hersteller-Entwicklungscenter zukommt? Sicher nicht der Projektleiter des Kunden, der aus der Sicht des Entwicklungscenters irgendwo auf der Welt in einem unbedeutenden Land sitzt. Sie erinnern sich ja an den Beitrag Staus im Projektmanagement vom 25. Juli 2008. Natürlich sind das Angelegenheiten, für die sich der Kunde nicht interessiert, und natürlich ist es verständlich, wenn er in der Offerte keinen entsprechenden Posten sehen will. Aber der Projektleiter des Lieferanten ist am Abend auch hungrig und kann die Arbeit nicht für Gottes Lohn machen. Hier entwickelt sich gerade eine neue Mode, die zur Komplexität beiträgt. Die Kräfte, welche die Randbedingungen liefern sind:
• Preisstandards für die Services, die mit dem System angeboten werden sollen
• Globalisierte Herstellerorganisationen vs. national operierende Betreiber
• Zunehmende Spezialisierung der Systeme für immer mehr konvergierende Applikationen
Die Players sind die Hersteller und ihre Subcontractors, die Betreiber entlang einer mehrstufigen Supply Chain sowie Millionen von Endbenutzern. Alle diese Players richten sich im herrschenden Kräftefeld so aus, dass sie das kleinste Leid haben, so wie sich ein Windzeiger in den Wind stellt, damit er der Windkraft am wenigsten ausgesetzt ist. Das führt möglicherweise zu einer Mode, die die Players „versklavt“, so dass sie schlussendlich ihre Ausrichtung nicht mehr selber wählen können. Was die Begriffe Mode und versklaven anbelangt erinnern Sie sich gewiss an den Beitrag Was ist komplex am Bierspiel vom 21. Juli 2008.

1 Wiki Softwaretechnik, Artikel Chaos-Report

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