Sind Sie gläubig oder lieben Sie Wahrscheinlichkeiten?

Kierkegaard ist gewiss nicht mein Lieblingsphilosoph, aber das folgende Zitat aus seinen Philosophischen Schriften hat mich im Zusammenhang mit Projektmanagement sehr bewegt. Möglicherweise wäre Kierkegaard über den Kontext, in dem er hier zitiert wird, nicht sonderlich begeistert, hat er doch jede Art spekulativen Denkens als Anmassung abgelehnt.

Daher ist die Wahrscheinlichkeit dem Glaubenden so wenig lieb, dass er sie mehr als alles fürchtet, weil er wohl weiss: sie bedeutet, dass er den Glauben zu verlieren beginnt. Dieser hat nämlich zwei Aufgaben: achtzugeben und in jedem Augenblick die Unwahrscheinlichkeit, das Paradox zu entdecken, um es dann mit der Leidenschaft der Innerlichkeit festzuhalten

Mit Wahrscheinlichkeiten jongliert jeder Projektmanager, wenn er Risiken abschätzen muss. Er ist denn obigem Zitat gemäss nicht ein Glaubender, er glaubt zumindest nicht an einen absoluten Projekterfolg. Das ist mir soweit sympathisch, denn dann unterliegt er weniger dem „Confirmation Bias“, dem Hang zu übermässigem Vertrauen in die Korrektheit des eigenen Wissens. Nassim Taleb spricht in diesem Zusammenhang auch von „epistemischer Arroganz“1.

Der Glaube habe zwei Aufgaben: achtzugeben und wenn er etwas Unwahrscheinliches entdeckt hat, dieses festzhalten. Achtsamkeit ist in der Tat ein wesentliches Element eines jeden seriösen Managements. Achtsamkeit im Sinne Karl Weicks heisst, die Aufmerksamkeit auf das Unerwartete zu fokussieren2. Die Unwahrscheinlichkeit, von der Kierkegaart spricht, ist in der Tat das Unerwartete. Wer achtsam ist, bleibt sich der grossen Bedeutung schwacher Signale bewusst, schreibt Weick. High Reliability Organizations (HRO) entwicklen geradezu eine Leidenschaft für Fehler, die zu unwahrscheinlichen, dafür aber katastrophalen Ereignissen führen können. HRO halten mit „der Leidenschaft der Innerlichkeit“ Beinaheunfälle fest, analysieren sie, verändern ihre Abläufe und erreichen so, dass sie nicht nochmals auftauchen, denn beim zweiten Mal könnten sie sich zu vollen Katastrophen – oder gemäss Taleb, zu schwarzen Schwänen –  entwickeln. HRO benehmen sich also wie Glaubende, die achtgeben und das Unwahrscheinliche suchen.

Wir sollten Projekte und andere Managementsysteme immer wie HRO führen, indem wir die ausgeprägte Fähigkeit entwicklen, schwache Signale wahrzunehmen und Fehler zu entdecken, ehe sie zu einer Krise eskalieren können. Für die meisten ist diese Empfehlung wahrscheinlich zu wenig handfest, weil sie eine Aufforderung zur Persönlichkeitsveränderung bedeutet. Sie enthält keine unmittelbare Handlungsanweisung in der Form: „Tue dies und das und alle Deine Probleme verschwinden mit einem Schlag“. Und wer mag sich denn schon gerne verändern?
1N. N. Taleb. Der Schwarze Schwan –  Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. Carl Hanser Verlag. München 2008
2Karl E. Weick, Kathleen M. Sutcliffe. Das Unerwartete manage – wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen. Klett-Cotta. Stuttgart 2003

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