Wissen Sie, wie man ein Projekt abwickelt oder können Sie es?

Von Zeit zu Zeit erhalte ich per E-Mail ein „Projektmagazin“ zugeschickt, das jeweils nur die ersten paar Zeilen seiner Artikel präsentiert. Wer mehr wissen will, muss den Artikel kaufen. Hohe Dynamik in Projekten – Wo Methodenwissen nicht mehr weiter hilft erregte meine Aufmerksamkeit, und ich habe mir den Artikel entgegen meinen Gepflogenheiten erworben1. Endlich mal jemand, der den Methodismus im Projektmanagement hinterfragt. Der Autor spricht Projekte an, die einen hohen Anteil an Dynamik haben, und in denen daher immer wieder Überraschungen auftauchen. Methoden sind Regelwerke und deshalb nicht geeignet, mit Überraschungen umzugehen. Das einzig wirksame Mittel – so der Autor – seien Ideen. Nur der Erfolg im Markt entscheidet, ob aus einer guten Idee eine marktgängige Innovation wird. Offenbar adressiert auch dieser Artikel vor allem Entwicklungsprojekte, denn in Migrations- und Integrationsprojekten sind marktgängige Innovationen weniger zentral. Auch wenn er drei Möglichkeiten der Problemlösung in Unternehmen vorstellt, denkt der Autor dabei wohl kaum an Migrations- und Integrationsprojekte:

  • Die Alltagsorganisation der Linie (das Management transfomiert das Problem in eine Anweisung)
  • Das konventionelle, methodisch durchgeführte Projekt (das Management transfomiert das Problem in einen Projektauftrag)
  • Das dynamikrobuste Projekt (Zerlegung des Problems in einen methodischen und einen dynamischen Teil)

Leider verschweigt der Autor, wer diese Zerlegung macht und behauptet ohne Quellenangabe, dass 95% methodische und 5% dynamische Anteile seien. Der einzige Lietraturhinweis ist ein Werk, das aus seiner eigenen Feder stammt. Schade, stellt er in seinem Artikel immer wieder unreferenzierte Behauptungen auf. So z.B. auch, nachdem er löblicherweise den Unterschied zwischen Aufgaben und Problemen erklärt und dann behauptet, Probleme seien äussere Reize, die ein Unternehmen nicht aussuchen könne. Bei niedriger Dynamik übersetze das Unternehmen Probleme in Aufgaben. Bei hoher Dynamik machen erfolgreiche Unternehmen Probleme sichtbar und suchen intern nach passenden Problemlösern. Ob er das eigenen Untersuchungen oder einem käuflichen Survey entnimmt, vernimmt der Leser nicht.

Das dynamikresistente Projekt steht im Zentrum seines Artikels. Ganz abgesehen davon, dass erfolgreiche Projekte hoffentlich nicht dynamikresistent sind, weil sonst kaum eine neue Struktur daraus erwächst, verstehe ich seine reduktionistische Aufteilung in 95% methodische und 5% dynamische Anteile nicht. In einer späteren Grafik über duale Prozessgestaltung scheint eher der dynamische Anteil 95% auszumachen. Niemand kann ein Problem ein für allemal in einen methodischen und einen dynamischen Teil aufsplitten. Während der methodischen Projektabwicklung entsteht laufend Dynamik. Eine neue Struktur, das Ziel eines jeden Projekts, kommt durch nichtlineare Dynamik zustande. Dynamik ist der wichtigste Bestandteil eines Projekts. Prigogine und Stengers schreiben: „Lange wurde Turbulenz mit Unordnung … gleichgesetzt. Heute wissen wir jedoch, dass das nicht der Fall ist“. So irregulär und chaotisch Turbulenz auch erscheinen mag, sie führt zu makroskopischen Strukturen2. Ein Projekt ist gewissermassen die turbulente Phase, die es braucht, um eine komplexe Struktur aufzubauen.

Der Autor zählt eine Reihe von Fluchtverhalten auf – er nennt sie destruktiven Schutzräume -, die in überforderten Projekten beobachtet werden können. Neben Kommunikationsfehlern nennt er Konsequenzen des Reparaturdienstverhaltens, reduktiver Hypothesenbildung, horizontaler und vertikaler Flucht und Einkapselung sowie dem Parkinsonschen Gesetz, ohne sich jedoch an die in der Fehlerliteratur üblichen Terminologie zu halten3. Sehr gewöhnungsbedürftig ist die Art, wie Wohland die Begriffe Können und Wissen braucht. Er behauptet, dass Ideen nicht aus Wissen abgeleitet werden können. Ideenproduzenten seien Könner, weswegen der Bedarf an Können bei hoher Dynamik steige. Nach Rasmussen und Reason werden Probleme aber gerade auf der wissensbasierten Ebene gelöst, nicht durch Ideen, sondern durch Analyse der abstrakten Beziehungen zwischen Struktur und Funktion des Problemzustandes und durch anschliessende Diagnose3. Das Können läuft auf der fähigkeitsbasierten Ebene weitgehend automatisch ab. Damit kann man höchstens Routineprojekte abwickeln.

1Gerhard Wohland. Hohe Dynamik in Projekten – Wo Methodenwissen nicht mehr weiter hilft. Projektmagazin 24/08. Das Fachmagazin im Internet.
2
Ilya Prigogine, Ingrid Stengers. Dialog mit der Natur – Neue Wege wissenschaftlichen Denkens. Piper Verlag. München 1981
3James Reason. Menschliches Versagen. Spektrum Akademischer Verlag. Heidelberg 1994
sowie
Dietrich Dörner. Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Rowohlt Taschenbuchverlag. Reinbek b. Hamburg 1992 u. 2002

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