Muss Führung Überzeugungsarbeit leisten?

Kürzlich erzählte ich jemandem, dass ich an Veranstaltungen wie Forschungswerkstatt über Projektmanagement oder PMCamp teilgenommen habe. Die Person äusserte Skepsis über „solche Veranstaltungen“. Sie behauptete, es komme nur darauf an, was jemand erreiche, nicht, was jemand denke. An solchen Veranstaltungen würde nur viel Zeit verbraten, um miteinander über realitätsferne Dinge nachzudenken und einander beim Beklagen von Schwierigkeiten zu bestärken.

Der Projektalltag

Ich glaube, ich weiss, was sie meint. Sie ist eine Person, die „toughe Projekte“ in Grossbanken in ganz Europa stemmt. Unter einem „toughen Projekt“ verstehe ich meist Migrationsprojekte, in denen mehrere Subcontractors mitmischen, die alle eine erhoffte Marge verfolgen, während das zu migrierende System für das Kerngeschäft des Auftraggebers überlebensnotwendig ist. Es ist vergleichbar mit einer Herztransplantation, an der verschiedene Lieferanten und Dienstleister verdienen wollen. Jedes Mal, wenn eine Schwierigkeit auftaucht, erhebt sich unter den Parteien eine Diskussion, wie man jetzt wohl am besten vorgehen soll. Jeder versucht durchzusetzen, was ihm am wenigsten an der Marge kratzt.

„Tough“ ist dabei die Tatsache, dass wenn das System zum Stichtag nicht bereit ist oder – noch schlimmer – zwar bereit sei, aber nicht fehlerfrei funktioniert –, dass dann der Auftraggeber grosse Verluste hinnehmen muss.

In solch turbulenten Projekten vergisst man gerne alle noch so hilfreichen Erkenntnisse, die an PM-Veranstaltungen diskutiert und in schönen Bücher über Führung geschrieben wurden. Man versucht, seine Haut zu retten und die „renitenten“ Projektmitarbeiter zur Kooperation zu bewegen. Ob Sie in einer turbulenten Situation einem selbstherrlichen oder eher kooperativen Führungsstil folgen, hängt letztendlich nur von Ihrer Persönlichkeit ab, nicht von guten und interessanten Leitsätzen, die Sie an letzten Veranstaltung gehört haben. Und so könnte man tatsächlich zur Überzeugung gelangen, dass das zählt, was man erreicht und nicht das, was man gelesen oder gedacht hat [1]. Aber diese Meinung ist mir zu macher- und heldenhaft. Und Helden brauchen wir nicht mehr.

Man kann nicht nicht führen

Es geht also um Führung, und es führen nicht nur Projektleiter oder –manager, wenn es diese Rolle denn überhaupt gibt. Jede Person führt, wenn sie versucht, ihre Interessen und ihre Persönlichkeit anzumelden oder gar durchzusetzen. Ich glaube aber, dass man nicht nicht führen kann. Auch graue Mäuse, die die ihr zugedachte Arbeit prompt und fehlerfrei ausführen, sich sonst aber nicht bemerkbar machen, bringen das Projekt vorwärts. Sie bringen es dadurch vorwärts, dass sie die Turbulenzen nicht erhöhen und gute Arbeit abliefern, die möglichst wenig zum Rework Cycle beitragen [2].

Geht es jedoch hart auf hart, müssen sich auch die grauen Mäuse entscheiden, auf welche Seite sie sich schlagen wollen. Wenn z.B. die Policy herausgegeben wird, dass jede Person im Projekt so viele Reports und Formulare ausfüllen muss, dass sie nicht mehr substantiell arbeiten kann, muss sich die graue Maus entscheiden, ob sie das mitmachen oder doch eher die substantielle Projektarbeit leisten will. Letztendlich kann sich niemand aus der Verantwortung stehlen.

Wo liegt denn die Verantwortung?

Das bringt mich zu der Frage, ob das ultimative Sinnkriterium der Führung tatsächlich nur darin besteht, was jemand erreicht. Es ist eben nicht so, dass nur diejenigen Projektmanager erfolgreich sind, die das Projekt termin- und budgetgerecht beendet haben. Das ist ähnlich, wie in politischen Situationen. Überlegen Sie sich einmal, welche Bundeskanzler Deutschlands oder welche amerikanischen Präsidenten „gut“ waren! Selten ist einer direkt für das verantwortlich, was in seiner Amtsperiode passiert. Es war nicht Kohl, der die Wiedervereinigung „gemacht“ hat. Sie hat nur zufällig während seiner Amtszeit stattgefunden. Es ist nicht so, dass die Amerikaner dank Kennedys Motivation als erste den Mond erreicht haben. Vielmehr war seine Vision auch die Vision der meisten Amerikanern und hat sofort Resonanz ausgelöst, so dass sie Kennedys Aufforderung gerne nachgekommen sind.

Jede Führungsintervention ist eine Fluktuation, die das System zunächst einmal zu unterdrücken versucht. Das sind die Widerstände, die uns entgegenschlagen, wenn wir etwas versuchen. Sind die Widerstände eher schwach, die Fluktuation stark genug und gibt es in der Umgebung ähnliche Fluktuationen, dann können sie das System „versklaven“, d.h. zum Kippen bringen. Im Klartext heisst das: wenn eine (Führungs-)Intervention auf fruchtbaren Boden fällt und natürlich dediziert genug vorangetrieben wurde, kann sie Erfolg haben. Damit sie aber Erfolg hat, braucht es ein Publikum, welches die Intervention akzeptiert und unterstützt. Fehlt das Publikum, kann kein Mensch etwas erreichen.

Verantwortung haben in erster Linie die Individuen der Community

Damit möchte ich die Verantwortung auf alle Projektteilnehmer verteilen. Ich fühle mich nie allein verantwortlich, weder für Erfolg noch für Misserfolg. Ich reisse gerne etwas an oder stelle Ideen zur Diskussion. Wenn ich aber zu wenig oder keine Unterstützung habe, sehe ich nicht ein, weshalb ich jemandem etwas aufzwingen sollte. Ich will gar keinen Erfolg haben, wenn er nur dadurch zustande kam, dass ich andere gegen ihre anfängliche Meinung überzeugen musste. Beispielsweise fühle ich mich für eine Terminüberschreitung nicht verantwortlich, wenn ich mir als Projektmanager eines Auftragnehmers Mühe gebe, den Termin zu halten, der Auftraggeber aber verzögert, weil er das Gefühl hat, dass die Qualität nicht stimmt.

Sicher sind einige Leser der Meinung, dass die Fähigkeit, andere zu überzeugen, ein wesentlicher Führungsbestandteil ist. Das gehört aber eher zu der Vorstellung „Hundert Mann und ein Befehl“, also ein Chef, der genau weiss, was er will und 100 Mitarbeiter, die sich vom Chef überzeugen lassen wollen. Das passt aber nicht zu Nils Pflägings dynamikresistenter Organisation, die ich im letzten Blogartikel diskutiert habe. Dort gibt es keine Chefs, die überzeugen müssen. Es gibt nur Teams hochmotivierter Mitarbeiter. Allenfalls gibt es in einem Team informelle Führer, die stets gute Ideen haben und diese manchmal etwas vorwitzig anbieten.

Ich erwarte von meinen Mitmenschen, dass sich selber eine Meinung bilden und nicht warten, bis ein Fürsprecher oder Visionär ihnen sagt, was Sache ist. Ich erwarte auch, dass jemand, der nicht gleich versteht, worum es geht, sich selber schlau macht. Mit den heute verfügbaren Hilfsmitteln im Web gibt es keine Hürden mehr.  Wer seiner Verantwortung bewusst ist, braucht keine externe Überzeugung, sondern kann sich selber eine bilden. Er stellt seine Überzeugung entweder zur Disposition oder im Dienst an der Sache bewusst hinter diejenige eines anderen.

[1] Daher empfehle ich, sich für 10% der Präsenz zurück zu ziehen (ca. einen halben Tag pro Woche) und über die Projektsituation und das, was sie mit einem macht, nachzudenken. Es genügt nicht, wenn man das beim Einschlafen tut, auch wenn man dabei auf mehr als 4 Stunden pro Woche kommt. Man muss sich während der Arbeitszeit, bewusst und intentional ausklinken, mal zusammen mit anderen vom Projekt, mal mit einem Coach, der genügend Abstand zum Projekt hat.

[2] Lancy, Peter. Development Inefficiencies – Managing The “Rework Cycle” in Complex Projects. ACLN 55/1997

4 Antworten auf „Muss Führung Überzeugungsarbeit leisten?“

  1. Hallo Peter,

    bei dem Satz, den die Frau gesagt hat, fallen mir (leider Gottes) noch ganz andere Dinge ein.

    ->
    So gibt es „Projektleiter“, für die fängt ein Projekt sozusagen beim Kick-Off Meeting (oder, noch schlimmer, später) an.
    Da haben sich „Andere“ dann „Gedanken“ gemacht…
    (Über so Dinge wie „Fragen“, „Optimierungspotentiale“ ;-), (Auswahl)Möglichkeiten, geistiger „Überbau“ etc)

    ->
    Außerdem gibt es Organisationen, in denen Einfluß und Status
    (dazu zähle ich hier auch mal die Gehaltsstufe),
    bei den Mitgliedern eine wichtigere Rolle spielen, als ein verantwortungsvolles Handeln.
    (Sowas kann ZB durch Mangelerscheinungen oder durch Denkfehler bei den Beteiligten, wie „Der erfolgreich SCHEINENDE hat Alles richtig gemacht.“ entstehen.)

    ->
    Deiner Idee, dass man nicht nicht führen kann, stimme ich gerne zu.

    …glaube aber auch, dass das
    manchmal zum Problem werden kann.
    ZB wenn es eine FORMELLE Führung gibt (incl. Gehaltsstufe / Status etc)
    und die Leute tun, was Andere (nicht in die strategischen Ziele Involvierte)
    an Ideen einbringen / aus „Unwissenheit“ tun.

    *****************************************
    Zum Thema „Wissen und schlau machen….“ fällt mir Folgendes ein:

    Angeblich soll es Menschen geben, die glauben,
    es gäbe Dinge, die man nicht mit Google findet, auch nicht. 😉
    (Ebenso wie man vermutlich „Alles“,
    also zB auch „das Gegenteil“, im Web finden kann.)

    Selbst habe ich schonmal erfahren dürfen,
    dass Transparenz ja heißt, dass Etwas durchsichtig ist
    => man es also nicht sieht 😉

    Von daher ist Dein Anspruch „selbst schlau machen“
    manchmal bestimmt nicht so ganz einfach….
    („einsetzende“ Rechtevergaben zB unterstützen das)
    …so bleibt es vermutlich auch oft dabei, dass Nicht-Wissen
    eine gewichtige Rolle spielt 😉

    Und umso wichtiger sind aus meiner Sicht

    Deine Anregungen,
    sich auch mal „zurückzuziehen“ und zu reflektieren
    (zB was das Projekt mit einem macht).

    Oder auch Deine Taten
    mit Anderen „auf Augenhöhe“ darüber zu forschen bzw. sich auszutauschen.

    Viele Grüße,
    Bernd

  2. Hallo Bernd

    Danke für den Kommentar. Von welcher Frau sprichst Du denn? Ich habe nicht von einer Frau gesprochen, sondern von einer Person. 🙂

    Doch! Sich selber schlau machen ist einfach. Aber man muss halt etwas tun dafür. Ich kann mir jedoch denken, was Du meinst. Ich spreche nicht von einem komplexen Sachverhalt, sondern z.B. davon, dass viele etwas als „unverständlich“ abtun, nur weil sie einen oder zwei Begriffe nicht verstehen und zu faul sind, diese nachzulesen oder mit anderen zu diskutieren.

    Hier stellt ein Student im Vorfeld einer Prüfung die Frage: „Welche Dingsbumms gibt es?“. Sogar, wenn ich es wüsste und ihm die Frage glatt beantworten könnte: er hätte nichts davon. Meine Antwort ginge ihm bei einem Ohr rein und käme beim andern gleich wieder raus. Er ist zu faul, die Frage selber zu recherchieren, mit den anderen Kommilitonen zu diskutieren, die gefundenen Dingsbumms mit einem Kurationstool zusammenzustellen, usw. *DAS* wäre Lernen!

    Gruss,
    Peter

  3. Hallo Peter,

    na, dass mit der Frau ist mal wieder spannend!
    Früher hätte ich vermutlich Wunschdenken gescherzt, heute Tippe ich auf „Querlesen“ 😉

    OK, nun habe ich besser verstanden, was Du meinst und glaube
    dass es keine einfache Sache ist, für etwas eine Bereitschaft zu „emotionalen Aufwand“
    (Engagemant) zu „leisten“.

    Es gibt Reformschulen, da sind die Inhalt in Projekte eingebunden.
    Manchen fällt es leichter, wenn „Englisch“ lernen mit dem Projekt
    „nach England fahren“ verbunden ist 😉
    *Oder mit etwas für das man sich interessiert / darüber freut*

    Viele Grüsse,
    Bernd

    PS: Immer wieder schön, bei Dir vorbeizulesen…

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