Man glaubt alles, was verspricht, Komplexität zu reduzieren

Wenn Sie ihre Umgebung aufmerksam beobachten, erkennen Sie oft – mehrmals täglich und bei verschiedensten Gelegenheiten – wie Menschen versuchen, die Komplexität ihrer Lebenswelt unzulässig zu reduzieren.

Beispiele:
Ein Managementrainer bietet ein Seminar an mit dem Titel „Projektturbo – Wie Ihr Team mit Humor zu einem Spitzenteam wird„. Endlich! Man braucht bloss den Empfehlungen dieses Projektgurus zu folgen und kann das Projektteam nicht nur zu einem Spitzenteam machen, sondern gleich auch noch das Projekt in einem Bruchteil der geplanten Zeit abschliessen (oder was genau ist ein „Projektturbo“?). So etwas hören Menschen gerne, sogar eingefleischte (Projekt-)Manager, vor allem, wenn es noch mit Humor geht. Tatsächlich mag die Methode in einigen Fällen hilfreich sein, aber ganz bestimmt nicht immer. Die Realität ist komplexer, als es einem hier suggeriert wird.

SAP schreibt (und anstelle von SAP können Sie irgend ein Unternehmen betrachten):

Nutzen Sie mit Ihrer Anwendungssoftware auch die Vorteile der offenen Technologie-Plattform, damit der Material- und Informationsfluss zwischen allen Beteiligten reibungslos läuft – über Systemgrenzen hinweg. Setzen Sie in Ihrem Unternehmen auch mit den bestehenden Systemen neue Kräfte frei!

Das vermittelt den Eindruck, man könnte Material- und Informationsflüsse reibungslos organisieren, wenn man nur über Unternehmensgrenzen kompatible Software einsetzt. Das ist aber grundsätzlich unmöglich, weil zu viele unberechnenbare Parameter eine Rolle spielen.

Kürzlich erhielt ich einen Auftrag von einem ISO-zertifizierten Unternehmen und damit eine Menge Papiere, die mich über Belangloses informierten. Nur die wirklich wichtigen Informationen, die ich für die Ausübung meines Mandats benötigt hätte, fehlten. Das Unternehmen war trotz der Zertifizierung nicht in der Lage, einen ganz einfachen Vertrag zu verassen, wie es zwei vernünftige Menschen tun, wenn sie eine Zusammenarbeit vereinbaren.

Dostojewskij schreibt in „Der Grossinquisitor“:  „Es gibt auf der Erde nur drei Mächte, die imstande sind, das Gewissen dieser schwächlichen Rebellen zu ihrem Glück für alle Zeit zu besiegen und zu fesseln: das Wunder, das Geheimnis und die Autorität“.

Mit „schwächliche Rebellen“ meint Dostojewskij die Menschen schlechthin. Ein Wunder wäre es z.B., wenn man mit einer Anwendungssoftware neue Kräfte freisetzen könnte, ohne die „bestehenden Systeme“ zu verändern. Wer bei Software nicht mitdiskutieren kann, erfindet einfach ein anderes Wunder, bis hin zu Wunderheilungen und anderen esoterischen Ansätzen.
Warum ein bestimmter Managementansatz oder eine Zertifizierung die Effizienz oder Effektivität einer Unternehmung oder einem Teil davon erhöhen sollen, bleibt ein Geheimnis erster Güte. Geheimnisse machen aus denen, die es kennen, eine eingeschworene Truppe. Diejenigen, die z.B. an das Geheimnis von Zertifizierungen glauben, bestärken einander im Glauben, dass eine Zertifizierung etwas Wert ist und die Welt vereinfacht.

Und schliesslich helfen Autoritäten, komplexes zu vereinfachen. Sie sagen, was Sache ist und woran man glauben soll (vor allem natürlich an sie). Präsidenten, Chefs, Päpste, Experten, Berater, Führer und Gott. Sie alle haben die hauptsächlichste Aufgabe, den Leuten die Komplexität des Lebens zu reduzieren. Ob sie dafür befähigt sind? Wann gibt es eine Zertifizierung für Komplexitätsreduktion? Und wann lernen Manager, sich nicht auf Sicherheit versprechende Slogans zu verlassen, sondern mit Unsicherheit umzugehen?

Eine Antwort auf „Man glaubt alles, was verspricht, Komplexität zu reduzieren“

  1. danke für diesen tollen Beitrag. Das Wunder, das Geheimnis und die Autorität – das hat mich bereichert! Danke. Und ja, wir leben in einer komplexen Welt. Der Grad der Komplexität unserer Welt steigt ständig – das merken auch Führungskräfte. Wir sollten uns damit befassen, wie wir besser mit Komplexität umgehen lernen. Eine Vereinfachung der Komplexität (eine Reduktion) kann nur kurzfristig eine Erleichterung bringen. Manchmal aber ist das angenehm. Langfristig kann sich niemand der Komplexität des Lebens entziehen und Führungskräfte am wenigsten 🙂 liebe Grüße

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