Ein Plädoyer zum Glücklichsein

Es hat sich zweifelslos viel verändert in den letzten paar Jahrzehnten. In den 1960er und 1970er Jahren wurden Ver- und Gebote zunehmend suspekt, und sie wurden gelockert oder aufgehoben. Während es z.B. in den schmutzgrünen Bussen der Städtischen Verkehrsbetrieben Bern (SVB) vor 1960 noch den Hinweis gab: Es ist verboten, während der Fahrt mit dem Chauffeur zu sprechen, stand dort ab 1960 noch: Es ist unklug, während der Fahrt mit dem Chauffeur zu sprechen.

Ge- und Verbote

Spätenstens seit 1970 sind solche Verbotsschilder verschwunden. Die Gesellschaft wurde offener und freier. Anfangs der 1970er Jahre las ich mit Begeisterung Alexander S. Neills Buch Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill. Summerhill ist ein Internat, in welchem der Unterricht freiwillig ist. Die Freiheit beschränkte sich jedoch nicht nur auf den schulischen Bereich, sondern sollte das gesamte Leben der pubertierenden Jugendlichen erfassen. 

Bald danach wurde self-government (heute fälschlicherweise oft auch als self-organization bezeichnet) auch auf andere gesellschaftliche Bereiche ausgeweitet, wie z.B. auf die Arbeitswelt. Es gibt den Begriff Arbeit 4.0, der von Menschen geprägt wurde, die zumindest im auslaufenden Schweif des „Kometen Summerhill“ sozialisiert wurden.  

Etwa so sieht es auch in Zürcher Trams aus. Verbotsschilder sind heute wieder gesellschaftsfähig!
File source: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Verbote_Dresdner_Strassenbahn.JPG

Aber heute sieht auch vieles anders aus. Berns Busse sind nun meist knallrot oder fantasievoll gefärbt und die SVB heisst jetzt „BernMobil“. Ich habe leider während der drei letzten Tage, in denen ich mich in meiner Heimatstadt Bern aufgehalten habe, vergessen, mich nach Ge- oder Verbotstafeln umzusehen. Hingegen wundere ich mich seit vielen Jahren über die Reihe von Verbotsschildern in den Trams von Zürich. Danach ist es verboten, ohne Ticket zu fahren, die Füsse auf dem Sitz gegenüber hochzulagern, während der Fahrt zu essen und zu trinken, zu musizieren, zu betteln oder sonstwie aufzufallen. Für 12 statt 29 Franken können Sie sogar die Pendler-Knigge mit 99 Geboten für den öffentlichen Verkehr kaufen!

Selbstverständlich sind Ge- und Verbote in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht weltbewegend. Aber sie sind eine kraftvolle Illustration des gesellschaftlichen Wertewandels der letzten Jahrzehnten. Auch die Werte der Arbeitswelt haben sich gewandelt und driften wieder zurück auf das Niveau der Nachkriegszeit. In den 1970er Jahren startete die Gesellschaft von einer konservativ-introvertierten Verwurzelung und erreichte anfangs der 2000er Jahre einen progressiv-extrovertierten Hedonismus, um sich in den letzten 20 Jahren wieder in ihr Schneckenhaus zurück zu ziehen. Die Karte des Psychologischen Klimas der Schweiz (PKS) illustriert diesen Weg „Back to the Roots“. Die Grafik finden Sie im Artikel Das Ergebnis von drei Revolutionen. Wie sich die Wertehaltungen in der Schweiz entwickelt haben von Lilian Demarmels in den DemoSCOPE News 2/2014.

Arbeitswelt

Noch in den 1970er Jahren musste ein Angestellter zu den Flötentönen seines Chefs und Arbeitgebers tanzen. Gearbeitet wurde fast ausschliesslich zum Zweck des Gelderwerbs. Das Arbeitgeberunternehmen stand im Zentrum des Lebens eines Angestellten. In den 1980er Jahren hinterfragte Frithjof Bergmann diesen Zustand und schlug mit New Work vor: nur arbeiten, was man wiklich, wirklich will (= sinnerfüllte Arbeit) und daneben Selbstversorgung sichern.

Frithjof Bergmann New Work Arbeit, die man wirklich, wirklich will 1984

1996 habe ich im Artikel Die Schleimpilz-Unternehmung vorgeschlagen, dass jede Person – oder eine kleine Gruppe von Personen – selbstständig einen ganz engen Bereich der Wertschöpfungskette erarbeiten und Dienstleistungen und/oder Produkte anderen Personen anbieten, die einen nachgelagerten Bereich der Wertschöpfungskette bearbeiten. Es gibt keine übergeordnete Instanz und jede Person ist völlig selbstständig. Der Artikel erschien im gdi-impuls des Gottlieb Duttweiler Instituts. Später habe ich ihn in diesem Blogartikel zusammengefasst.

Das macht Midjourney aus dem Prompt „demokratische Arbeit, bei der die Arbeiter bestimmen, wie das Projekt abgewickelt wird“. Für mich sieht es aus, als ob eine Person selbstbestimmend, aber mit anderen selbstständigen Instanzen vernetzt, eine für sie sinnvolle Arbeit durchführt. Das entspricht der Schleimpilz-Organisation.

In der Folge wurde die Diskussion um neue Arbeitsformen immer lauter. Aber erst 2015 erschien Frederic Laloux‘ Buch Reinventing Organizations, in der das Buurtzorg-Modell ein zentrales Kapitel darstellt. Das Buurtzorg-Modell ähnelt sehr stark meiner Schleimpilz-Unternehmung.

Frederic Laloux: Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, Vahlen, München 2015, ISBN 978-3-8006-4913-6 

Die Diskussion setzt sich weiter fort. Im Zusammenhang mit der Einführung digitaler Hilfsmittel (zuletzt durch generative künstliche Intelligenz), emanzipiert sich der Angestellte des 21. Jahrhunderts noch mehr. Das haben Kerstin Jürgens, Reiner Hoffmann und Christina Schildmann in ihrem Report Arbeit transformieren! Denkanstöße der Kommission »Arbeit der Zukunft« rezensiert. (transcript, Bielefeld 2017, ISBN 978-3-8376-4052-6).

Wenn es nach der Ideen der aktuellen Arbeits- und Organisationsdiskussionen ginge, wären Angestellte die eigentlichen Unternehmensleiter. Nur die Sachbearbeiter und Experten an der Basis wissen, was sie brauchen und wie man die Problem löst, die sie antreffen. Nicht das Arbeitgeberunternehmen muss im Zentrum ihres Lebens stehen, sondern ihr Projekt und ihr Kunde, genau, wie bei einem Selbstständigen. Mir scheint, dass die Diskussion um neue Arbeitsformen bei den Angestellten dieser Zeit nicht angekommen ist. Sie haben wohl nie über Sommerhill gelesen.

Generationen

Vielleicht versuchen die Mitglieder der Z-Generation genau das: ein Engagement in sinnvoller Arbeit. Vielleicht versuchen sie das zu arbeiten, was sie „wirklich, wirklich wollen“, und sie wollen sich nicht ausbeuten lassen. Vielleicht hat erst die Z-Generation endlich verstanden, dass es heute keine (ausbeutenden) Arbeitgeber mehr geben darf, sondern dass Arbeitgeber Dienstleister sind, die für die „Angestellten“ Aufträge akquirieren, aber nicht mehr für die Durchführung der Aufträge zuständig sind.

Manchmal nerven mich die Generationenschubladen, auch Generationenlabels genannt. Sie haben sicher auch schon davon gehört: Stille, Boomer, X, Y, Z, Alpha

Das lobenswerte Programm Intergeneration der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft unterhält viele Projekte, die die Begegnung und den Austausch zwischen den verschiedenen Generationen fördert. Im Artikel Babyboomer, Generation X, Y, Z etc. erklärt Intergeneration, was mit den Generationenlabels gemeint ist.

Der Stillen Generation gehören die vor 1945 geborenen an.

Boomer sind die 1945 bis 1964 geborenen. 

Das sind immerhin fast 20 Jahre. Dann eilt es aber plötzlich. Die folgenden Labels werden wie folgt abgegrenzt:

X: 1965 – 1980 Geborene 

Y: 1981 – 1995 Geborene

Z: 1996 – 2010 Geborene 

So sieht Midjourney die Zusammenarbeit von Boomern und Angehörigen der Z-Generation

Die Buchstaben-Generationen dauern nur noch 15, bzw. 14 Jahren! Die Eile passt auch zu den Labeln. Wer mit X begann, konnte ja ausrechnen, dass er nach drei Generationen, also nach 45 Jahren, „out of stock“ ist. Jetzt bedient man sich des griechischen Alphabets. Und dann? Das kyrillische? Keine Ahnung, wer sich diesen Unsinn ausgedacht hat. Soziologen? Es ist mir schon klar, dass es hier nicht um Familiengenerationen, sondern um Gesellschaftsgenerationen. Diese „messen“ den Wertewandel und bündeln die Menschen in Befindlichkeitskategorien, „Generationen“ genannt. Den Generationenbegriff erklärt Intergeneration im Beitrag Was ist mit «Generationen» gemeint?

Hier steht denn auch: 

Im Jahr 2019 entwickelte sich in der Netzkultur die Phrase «OK Boomer», welche die konservativen Ansichten und Unbelehrbarkeit für neue Ansätze der Babyboomer kritisierte und Stereotypen über diese Generation aufgriff. Dieser Generationenkonflikt wurde insbesondere in der Thematik rund um den Klimawandel sichtbar. Einige Stereotypen wurden gefördert: Babyboomer würden sich nicht um die jüngeren Generationen und deren Zukunft kümmern, beharren auf ihrer eigenen Meinung und seien nicht technikaffin. 

Pardon: Wer hat jetzt nur schon das Internet und das Web erfunden? Wer hat zuerst auf drohende Umwelt-, Klima- und Resssourcenkatastrophen aufmerksam gemacht? Wer hat 1968 innovative gesellschaftliche Ansätze eingeführt? Wer hat mit neuen Ideen versucht, jüngere Generationenzu fördern (wie z.B. in Summerhill) ?

Keine nachkommende Generation war so aufgeschlossen, innovativ, technikaffin und nachhaltig wie die Boomer! Mir scheint, dass viele Stereotypen, die den Boomern nachgesagt werden, eher auf nachfolgende Generationen passen. Ob es sich um eine Projektion handelt?

Multikrise meistern

Ich will nicht leugnen, dass sich in den letzten Jahrzehnt vieles verändert hat und junge Menschen daher andere Überzeugungen haben, als die Alten. Dass dem so ist, will ich auch sehr hoffen. Ob aber diese Endzeitstimmung, wie wir sie heute erleben, hilfreich ist, wage ich zu bezweifeln.

Die Welt erscheint einem so, wie man sie sich vorstellt. Wer alles negativ sieht, der nimmt die Welt auch negativ wahr und für den ist die Welt dann auch feindlich und böse. „Neue wissenschaftliche Erkenntnisse“, nach denen aktuell alles falsch läuft, werden einem laufend präsentiert: 

  • Obst führt zu Alzheimer und Leberzirrhose
  • Wer Milch trinkt wird krank und stirbt früher. Es ist aber besser Kuhmilch als Hafermilch zu trinken, weil Hafermilch ungesund.
  • Schlafen auf der rechten Seite beansprucht das Herz übermässig und ist schädlich.
  • Joghurt auf nüchternen Magen führt zu Verdauungsproblemen und – 
  • jetzt ist es raus: jeder Tropfen Alkohol ist schädlich.

Du meine Güte! Seit hunderttausend Jahren essen Menschen Obst, schlafen sie auf der rechten Seite, trinken sie Alkohol und Milch. Noch nie haben sie sich darum gekümmert, aber heute, wo sie älter denn je werden, soll alles falsch sein. Mit Hiobsbotschaften kann man sich wichtig machen, vor allem wenn sie in den Sozialen Medien viral (sic) gehen. Aber das führt zu einer gefährlichen Abwärtsspirale: Je mehr Hiobsbotschaften wir lesen, desto deprimierter werden wir und desto mehr Hiobsbotschaften hören wir, etc.

So stellt sich Midjourney eine Befindlichkeit voller Angst vor!

Sicher! Es gibt auch echte Angstmacher: Weltkriege, der Einsatz von Atomwaffen, der Ausbruch eines Supervulkans, Klimaerwärmung, der Einschlag eines Meteoriten oder ein ungewöhnlich heftiger Sonnensturm. All das bedroht die Menscheit aktueller denn je. (Nicht dazu rechne ich das Gerede um Künstliche Intelligenz, die angeblich bald die Menschheit vernichten wird; das ist Marketing der HighTech-Unternehmen). Einige dieser Katastrophenszenarien können wir wenig bis gar nicht beeinflussen. Z.B. war die Atombombengefahr in den 1960er und 1970er Jahren möglicherweise ebenso aktuell, wie heute wieder. Da wir damals aber keine Internetpresse und vor allem keine Social Media hatten, war uns die Gefahr nicht in gleichem Masse bewusst, wie heute. Aber was wir heute lesen, muss nicht immer stimmen, ja stimmt meistens so nicht, wie es bei uns ankommt. Es macht keinen Sinn, sich in eine Angst-und-Bange-Stimmung zu versetzen. Sollte es zu einer katastrophalen Veränderung kommen, werden wir noch früh genug die Herausforderung annehmen müssen, unser Überleben zu sichern. Aber das können wir jetzt nicht planen, da wir nicht wissen, wie das Katastrophenszenarium aussehen wird, denn solche Katastrophen sind erstmalig. Niemand hat entsprechende Erfahrungswerte.

Aus dem psychosozialen Tiefdruckgebiet heraus treten

Vielleicht nennen Sie das „Verdrängung“ und weisen auf Christoph Schmitts Blogartikel Ich habe keine Mitmenschen hin, der vor eben dieser Verdrängung warnt. Was Schmitt kritisiert, nenne ich „Verweigerung“ (sich der Gefahr bewusst zu sein), während „Verdrängung“ in erster Linie „Platz schaffen“ bedeutet. Wenn ich in ein Bad steige, verdränge ich Wasser, weil ich für meinen Körper Platz schaffe. Das hat für mich nichts Negatives. Würde ich jedoch das Wasser nicht verdrängen, sondern zulassen, dass es mich durchdringt, so würde es mich womöglich erodieren und auflösen. 

Schmitt zitiert ausgerechnet den Philosophen Peter Sloterdijk, der von sich selbst sagt, er sei unempfänglich für Theorien, in denen die Depression immer Recht hat und er sei von dem psychosozialen Tiefdruckgebiet befreit. 

In Michel Friedmans Buch Schlaraffenland abgebrannt. Von der Angst vor einer neuen Zeit klingen ähnliche Töne an, wenn er meint, die Zuversichtlichen seien „selbstverliebt mit ihrem Glück und ihren Sehnsüchten beschäftigt“, ohne zu merken, dass ihr Untergang schon begonnen hat. Dann lass er sie doch untergehen! Sie nehmen ihm seine Angst schon nicht weg! Friedman hat Angst vor einer neuen Zeit und ist damit nicht alleine. Gemäss einem Artikel der Welt, haben vor allem junge Leute mehrmals pro Woche Selbstmordgedanken, ausgelöst durch die Folgen der Pandemie, dem Ukraine-Krieg, der Klimaerwärmung und anderen Krisen. Mit Ängsten und Angstverliebtheit wird aber niemand Herausforderungen meistern können. 

Es stehen zweifellos grosse Herausforderungen an. Je mehr zuversichtliche und vertrauensvolle Menschen es gibt, desto besser werden sie sie meistern können. Ich will mich nicht mit Ängsten und Pseudoängsten im Voraus verrückt machen. Und ich werde mich nicht mit Leuten über die „wahren“ Ursachen von zu erwartenden Katastrophen und das „richtige“ Vorgehen zu ihrer Verhinderung streiten.

2 Antworten auf „Ein Plädoyer zum Glücklichsein“

  1. Hallo Peter
    Danke für diesen Artikel. Ich bin sehr mit Dir einverstanden und denke auch, dass ich mich dann mit Katastrophen oder auch mit kleineren Krisen beschäftige, wenn sie bei mir angekommen sind. Bis dahin lebe ich möglichst gut mit meinen Nachbarn und Freunden und freue mich, dass es mir hier bei mir so gut geht. Liebe Grüsse Elisabeth

  2. Lieber Peter

    Wo Du recht hast hast Du recht. zB: da
    Keine nachkommende Generation war so aufgeschlossen, innovativ, technikaffin und nachhaltig wie die Boomer! Mir scheint, dass viele Stereotypen, die den Boomern nachgesagt werden, eher auf nachfolgende Generationen passen. Ob es sich um eine Projektion handelt?

    Liebe Grüsse aus der heißen Sonne der Insel Margarita / Ven

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