In Vietnam besuchten wir meinen Sohn, Philippe, der dort als Digitaler Nomade unterwegs war, nachdem er vorher zwei Jahre in Shanghai für eine Schweizer Firma arbeitete. Eigentlich besuchten wir immer Familienangehörige, in Alaska, in Hawaii und jetzt, in Vietnam.

Vietnam gefällt mir besonders gut, ohne genau erklären zu können, weshalb. Ich habe einfach eine Vorliebe für diesen Menschenschlag. Und so will ich denn hier mehr über die Leute in Vietnam berichten, als über das Land, das ebenso grossartig und vielfältig ist, wie viele andere Ecken der Erde auch.
Verkehr

Das erste, was in Vietnams Städten auffällt, sind die vielen Motorräder in den Strassen. Sie sind zahlenmässig den PKW weit überlegen. Das Überqueren einer stark befahreren Strasse ist immer ein kleines Abenteuer, aber relativ ungefährlich. Natürlich nimmt niemand auf Fussgänger Rücksicht, die überquerungsbereit am Strassenrand stehen. Erst wenn ein Fussgänger auf die Strasse hinaus läuft, wird er wahrgenommen. Wenn Sie in Europa eine Strasse überqueren, während sich ein Auto nähert, dann „rechnen“ Sie ständig , ob es noch reicht, vor dem Auto die andere Strassenseite zu erreichen. Je nachdem, erhöhen Sie Ihre Laufgeschwindigkeit. In Vietnam ist es umgekehrt: die motorisierten Verkehrsteilnehmer „rechnen“ ihre Geschwindigkeit aus, die sie anhand der Laufgeschwindigkeit des Fussgängers anpassen.
Natürlich verlässt sich niemand auf die Rechenkünste der anderen. Fatal ist das aber dann, wenn der Motorradfahrer denkt, dass er bei konstanter Geschwindigkeit gerade hinter Ihnen durchfahren kann, während Sie als Fussgänger meinen, den herannahenden Motorradfahrer noch vor Ihnen durchlassen zu wollen und stehen bleiben. Daher: Bleiben Sie als Fussgänger NIE mitten auf der Strasse stehen! Aber das ist einfacher gesagt, als getan. Manchmal brauchte es bloss eine Beobachtung im Augenwinkel, die mich anhalten liess, obwohl ich es nicht wollte. Dann geriet der ganze Verkehrsfluss drunter und drüber. Der nahende Motorradfahrer kam in’s Schlingern, die nachfolgenden ebenfalls und alle sahen mich böse an.




In Vietnam herrscht offiziell Rechtsverkehr. In der Regel wird jedoch gefahren, wo gerade Platz ist.
Nicht selten sitzen auch auf kleinen Motorrädern alle Familienangehörige – Vater, Mutter, und zwei bis drei Kinder, obwohl nur maximal „zwei schwere oder drei leichte Personen“ mit einem Moped befördert werden dürfen.
Die Motorräder sind für alles da. Sie werden nicht nur mit Personen überladen, sondern zum Transport von allem und jedem verwendet. Manchmal fragte ich mich, wie sie überhaupt noch fahren können, bei den Riesenlasten. Manchmal haben sie ein halbes Dutzend 20-Liter-Wasserflaschen am Rahmen und Lenker angehängt. Manchmal sind die Transporte reine Kunststücke, wenn z.B. ein Tableau oder Bild auf dem Motorrad mitgenommen wird. Wie verhindert man, dass es vom Fahrtwind nicht gleich wegfliegt?





Arbeit

Wie schon gesehen, sind viele als „fliegende Händler“ unterwegs (oder zumindest „fahrende Händler“). Ihr Fahrzeug oder Anhänger dient gleich als Verkausstand. Andere legen ihre Waren einfach auf den Boden. Auch Handwerker verrichten ihre Arbeit einfach direkt am Boden. Werkbänke, robuste Arbeitstische oder Schreibtische gibt es für die meisten nicht. Natürlich gibt es in den modernen Bürohäusern der Grossstädte professionelle Arbeitsplätze. Aber der Grossteil der Bevölkerung sind arme Bauern oder Strassenhändler.
Oft wohnen die Menschen am selben Ort, wie sie arbeiten. Der Wohnraum ist z.B. vorne beim Eingang als Friseursalon eingerichtet, während im hinteren dunkeln Teil eine Heizplatte zum Kochen und eine Strohmatte als Bett dient. Diese Leute arbeiten sehr viel. Eine andere Familie hat einen Handel mit Schrott und Lumpen. Sie sortieren die Ware während des Tages und legen sich danach unter einem Dach zum Schlafen hin. Das ist normaler Alltag in einer Grossstadt, also keineswegs auf dem Lande.


Die Menschen arbeiten sehr viel. Es gibt ihnen nichts zu tun, grosse Lasten zu schleppen. Ich weiss nicht, ob ich mich täusche, aber es sind sehr oft die Frauen, die die grosse Arbeit verrichten, sogar auf den Baustellen. Männer arbeiten zwar auch, aber zumindest leben sie ihre Work-Life-Balance offen aus. Sie können einfach vor ihrem Laden sitzen, die längste Zeit mühelos mit verrenkten Gliedern, als hätten sie nichts von Arthrose gehört.



Andere spielen auf dem Gehsteig zusammen ein mir unbekanntes Brettspiel, das aber an Gomoku erinnert.
Wieder andere sitzen im Café nebenan oder im Schneidersitz auf ihrem Fahrrad und gucken in ihr Smartphone.
Einige machen einfach ein Schläfchen, wo sie gerade „arbeiten“.








Andere Arbeitsstellen
Spannend sind Baustellen. Diese sind oft ein grosses Durcheinander und sehen eher wie eine Abbruchstelle als wie eine (Auf)Baustelle aus. Die Handwerker verrichten ihre Arbeiten meistens auf höchst riskante Weise. Beispielsweise sitzen Maler auf einem dünnen Brett, das an einer unterdimensionierten Kette in luftiger Höhe hängt. Alle tragen sie stets Flipflops oder sind barfuss, auch bei Dacharbeiten, die natürlich ungesichert durchgeführt werden. Anstelle eines Krans tut es oft auch ein Elektromotor, der ein Seil auf- oder abwindet. Der „Kranführer“ sitzt natürlich wieder am Boden und bedient den Motor. Damit für das Seil genügend Raum vorhanden ist, steht der Motor auf der Strasse , was für den „Kranführer“ meines Erachtens nicht ganz ungefährlich ist. Aber das hat er sich wahrscheinlich kaum überlegt.
Für die Weihnachtsdekoration am Eingang unseres Apartmenthauses brauchte es fünf Personen: zwei arbeiten, eine erteilt Anweisungen, eine schaut sich das Werk aus einer gewissen Distanz an und eine schaut sich die Details an. Nicht so, beim Einholen des Tagesfangs in Da Nang. Dort packen die meisten gemeinsam an, wenn es gilt, das riesige Netz aus dem Wasser zu ziehen. Zuschauer sind oft nur Touristen. Die Postangestellten in der prächtigen Hauptpost von Saigon habe es da etwas weniger anstrengend. In der kolonialistischen Schalterhalle hängt ein nicht zu übersehendes Bild von Ho Chi Minh. Ansonsten wirkt die Post beinahe westlich. Das ist typisch für Vietnam: auf der Schwelle zwischen Tradition und (europäischem) Standard, den sie von ihren Kolonialherren gelernt haben.








Anschluss an Europa
Vietnam ist unglaublich gierig, den Anschluss an die westlichen Standards zu schaffen. Sie haben viel gelitten unter den Franzosen, aber von ihnen auch viel gelernt. Sie haben es verstanden, das Gute zu nehmen und sich gleichzeitig dafür einzusetzen, die verhassten Franzosen aus dem Land zu verjagen. Bekanntlich mussten sie sich dazu auch mit den Amerikanern anlegen, die eigentlich dort überhaupt nichts verloren gehabt hätten. Auch von den Amis haben die Vietnamesen Know-How, Kultur und Technologie übernommen, bevor sie sie besiegten.
In Asien, zumindest in Ländern, in denen keine ausgeprägt religiöse Kulturen herrschen, wie z.B. China oder Vietnam, gilt der europäische Lebensstil als chick, europäische Marken sind in und lange Nasen gehören zum Schönheitsideal. Wenn man über Land fährt, fallen die vielen Fertigungsindustrien bekannter Elektronikmarken auf, die man gar nicht mit Vietnam in Verbindung brachte. Seit Korea, China und Taiwan nicht mehr zu den Billigstfertigern gehören, ist manche Produktionsanlage in’s benachbarte Vietnam umgezogen. Das gilt auch für die Textilindustrie, die vorher typischerweise in Hong-Kong war.



Tourismus
In meinem Lieblingsquartier, Thao Dien, in Ho Chi Minh City, kann der Spagat zwischen Tradition und westlichem Stil gut studiert werden. Es gibt viele traditionelle Betriebe, Schreiner, Strassenküchen, Frisöre, etc., die am Boden und in dunklen Hütten ihr Handwerk verrichten. Daneben gibt es viele „moderne“ Cafés, Bars, Restaurants, Hotels, Wellness, Zahnkliniken, Banken, etc. Es gibt einige Pizzerien unter italienischer Führung, eine Crafts Bier Bar, ein Jazz-Lokal, französische Restaurant, die Haute-Cuisine anbieten, Feinkostläden vom Feinsten, ein Spielcasino, internationale Schulen/Institute, etc. Solche Entwicklungen ziehen Touristen an.
Der Tourismus ist mittlerweile einer der wichtigsten Wirtschaftszweige in Vietnam, trotz kommunistischem Einparteiensystem. Vielleicht ist es gerade deshalb ein relativ sicheres Land mit niedriger Kriminalität. Zwar gibt es überall Plakate mit politischer Propaganda. Für Touristen ist die Regierung aber ziemlich unauffällig und hält sich im Hintergrund. Die grossen Städte, allen voran Saigon und Hanoi, aber auch Regionen wie das Mekong-Delta oder die Ha Long Bay sind für Touristen interessante Ziele und gut erschlossen. Dennoch glaube ich im Mekong-Delta noch immer etwas vom LNF-Geist zu spüren, war es doch einer der Hauptschauplätze der Kämpfe zwischen den Guerilleros und den US-Streitkräften.





Die Vietnamesen sind sehr freundlich. In einem Land mit mir sehr fremder Kultur grüsse und lächle ich, wenn ich einer einheimischen Person begegne. Das mache ich einerseits, um die Person mir gegenüber freundlich zu stimmen, andererseits aber auch, um zu sehen, wie sie reagiert. Ich habe das auch schon in Zürich ausprobiert, aber nur selten eine Reaktion erhalten. In Vietnam lächeln die Menschen meistens überrascht zurück. Sie freuen sich ganz offensichtlich, über eine freundliche Langnase, die ausnahmsweise mal keine Gefahr darstellt.
Es ist schrecklich, was ich im Kriegsmuseum gesehen habe. Die Franzosen haben sogar Guillotinen eingeführt und die „verhafteten“ Vietnamsesen in einer Art niederen Mausefallen gehalten. An das, was dann die Amerikaner mit ihnen gemacht haben, erinnern wir uns noch. Und wozu? Für gar nichts! Vietnam ist heute vereint, selbstständig, kommunistisch , mit einem grossartigen Volk. Das hätte die internationale Staatengemeinschaft auch gleich haben können, wenn die Franzosen Vietnam 1945 einfach in die Unabhängigkeit entlassen und sich die Amis nicht eingemischt hätten!









Hallo Peter
Sehr schöner Bericht, wie immer. Wi Du vielleicht weisst steht Vietnam gerade heute wieder vor einer grossen Herausforderung. siehe dazu die NZZ von heute Dienstag 30. Juli, 2019. Nur sind es diesmal die Chinesen die den Vietnamesen vor Ihrer Küste ein Erdöl reiches Seegebiet abjagen wollen. Sie behindern andere Schiffe mit einem der welt grössten chinesischen Küstenwachtschiff. Wie wenn dieses Küstenwachtschiffe eine Küste von China sicher oder bewachen müssten. Die Chinesen sind eine riesen Gefahr für Fern Ost Asien. Ihre Politik wird täglich expansiver und agressiver. Und es ist nur eine Frage der Zeit bis es knallt, oder eine Kollision stattfindet.
Hallo Sepp! Ja, da hast Du recht. Wenn es einen größeren Konflikt gibt, dann reisst sich China Vietnam unter den Nagel, auch wenn der Konflikt gar nicht wegen Vietnam entstanden ist. In diesem Fall, wo China den Vietnamesen etwas wegnimmt, können diese gar nichts machen, es sei denn, sie wollen nochmals einen Guerillakrieg versuchen. Das dürfte aber böse enden, nicht nur für Vietnam. Was sollen wir tun? Wir haben in Europa jetzt ja wichtigere Probleme….