Im Zeit-Artikel «Poppers Traum ist in Gefahr» weisen Faigle/Venohr auf die Untersuchung von Gerret von Nordheim hin, der 80.000 Tweets nach dem Münchener Amoklauf ausgewertet hat (1). Er schreibt: «Die Öffentlichkeit spaltet sich immer mehr in isolierte Sphären» und spricht damit den Begriff der Filterblase von Eli Pariser an (2).
Zerrspiegel der Wirklichkeit
Pariser meinte damit den individualisierenden Effekt der Algorithmen von Google. Auch Facebook verwendet solche Algorithmen, um uns Beiträge zu zeigen, von denen Facebook annimmt, dass sie uns interessieren können. Das ist auch eine mächtige Selektion, die soziale Medien zu einem Zerrspiegel der Wirklichkeit werden lassen kann
Mit «Zerrspiegel der Wirklichkeit» meinen Faigle/Venohr zweifellos die Tatsache, dass wir uns in den Sozialen Medien tendenziell mit Gleichgesinnten verbinden und dadurch einen immer eingeschränkteren Blickwinkel von der Welt bekommen, weil uns die Auseinandersetzung mit verschiedenen Meinungen fehlt.
Das ist allerdings so nicht haltbar. Selbstverständlich nimmt der Anteil derjenigen Personen, die sich für dasselbe interessieren wie ich, in meiner Community zu, aber die neuen Follower und Freunde sind nicht nur von dieser Art. Ich bin mit vielen früheren Freunden aus dem realen Leben, mit vielen ehemaligen Arbeitskollegen und viele Verwandten und Bekannten verbunden, die ich nicht auswählen konnte, d.h. die meine Interessen und Ansichten mit mir nicht gezwungenermassen teilen. Natürlich würde ich mich nicht mit jemandem verbinden, mit dem ich zerstritten bin, aber um eine solche Person mache ich auch im realen Leben einen Bogen.
Expertenstreit ist heftig
Anfangs der 30er Jahren trafen sich die Nazis in geschlossen Vereinsversammlungen und frönten so ihren Filterblasen. Heute sind die Echokammern und Filterblasen auf den Social Media mindestens öffentlich und können von Andersdenkenden gestört werden.
Dazu kommt ein Phänomen, das man gemeinhin übersieht: Expertenstreit ist oft heftiger als der Streit zwischen zwei weit auseinanderliegenden Positionen. Ein Physiker und ein Psychologe können sich über die Frage streiten, was für Menschen wichtiger sei, ob Physik oder Psychologie. Schliesslich werden sie sich sagen, dass der jeweils andere zu wenig Kenntnis des eigenen Sachgebiets hat und deshalb die Frage gar nicht wirklich vertreten kann. Zwei Physiker hingegen können sich gewaltig in die Haare kriegen, wenn es z.B. um die Interpretation der Quantentheorie geht, denn jeder kann davon ausgehen, dass der andere genau weiss, was er hier behauptet. Damit will ich sagen, dass der Streit in meiner Filterblase heftiger sein kann, als wenn ein Linker eine Filterblase von Populisten stört.
Google ist böse! Warum nur immer Google?
Wer behauptet, es liege allein in unserer Hand, wie wir in sozialen Medien agieren, spricht Unternehmen wie Facebook die Verantwortung für ihr Handeln ab. Die Politik sollte sich in meinen Augen auch nicht scheuen, Firmen wie Facebook stärker zu regulieren.
Welche «Verantwortung» denn? Im noch vorherrschenden Wirtschaftsverständnis besteht die Verantwortung eines Unternehmens darin, Gewinn zu machen, am Leben zu bleiben und den Angestellten den Job zu sichern. Genau das machen Google & Co. Google ist nicht verantwortungsloser als Toyota oder Walmart, um zwei der zehn grössten Unternehmen zu nennen. Kritik an Weltkonzernen gibt es immer, eben gerade, weil sie den Auftrag haben, zu wachsen und Gewinn zu machen. Dass aber die Kritik derart einseitig verteilt ist, dass sie sich vor allem auf grosse Web- und IT-Unternehmen konzentriert, halte ich für eine Auswirkung einer Filterblase, in der sich die Kritisierenden befinden.
Es geht also nicht so sehr um Regulierung der «bösen» Konzernen, als vielmehr um das Finden und Implementieren einer neuen Ökonomie, in der nicht Gewinn und Wachstum an erster Stelle stehen, aber so, dass dennoch ein Anreiz zur Selbsterhaltung (Autopoesis) besteht. Wer spontan eine realisierbare Idee hat: vortreten!
Komplexität manifestiert sich in höheren Strukturen
Was Gerret von Nordheim (und viele andere) hier herausgefunden habt, ist die strukturbildende Eigenschaft von Komplexität. Eine nachhaltige Disruption führt in einem System immer zum Aufbau einer neuen Systemstruktur, die ihrerseits dem System einen neuen «Groove» aufzwingt. Dadurch hat das System eine höhere Komplexitätsstufe erreicht.
Die Struktur kommt dadurch zustande, dass die Disruption einen Zwang auf das System ausübt, dem das System auszuweichen versucht und sich neu arrangiert. Wie ich in Strukturen dienen der Funktionalität komplexer Systeme erklärt habe, kann das System nur dank dieser komplexen Struktur überhaupt funktionieren.
Auf unser Problem bezogen bedeutet dies, dass die Socal Media Gesellschaft nur mit der Fragmentierung funktionieren kann, die Gerret von Nordheim et al. herausgefunden haben. Was soll man nun davon halten? Die einen werden die Algorithmen verteufeln und raten, keine SoMe zu verwenden und statt Google z.B. auf Duckduckgo auszuweichen. Andere werden in noch fundamentalistischerer Weise ganz auf das Web verzichten wollen. Beides ist kurzsichtig, unhaltbar und nutzlos, es sei denn, die gesamte Menschheit verzichtet ab sofort auf die Nutzung von Webdiensten. Denn solange die meisten meiner Mitmenschen SoMe benutzen und deshalb in einer Filterblase leben, werden sie mich dahingehend beeinflussen, dass ich ebenfalls in dieser Filterblase bin.
(Nebenbei gesagt, kenne ich den Google-Algorithmus recht gut und habe ihn als Beispiel im Modul «Lineare Algebra» mit den Studenten studiert. Von Duckduckgo weiss ich nichts.)
Heute läuft einfach alles über das Web
Würde die gesamte Menschheit (z.B. durch Regulierungen?) gänzlich auf das Web verzichten, gäbe es keine Bankomaten, keine Bananen und keine Zeitungen mehr, um nur einige Beispiele zu nennen. Fast die gesamte Wirtschaft und das gesamte Leben käme zum Erliegen. Wie kürzlich jemand geschrieben hat, würden wir nicht in die Vorwebzeit zurückgehen – also in das Jahr1990, sondern in das Jahr 1930! Ich bin sogar der Meinung, dass wir in das 19. Jahrhundert zurückgeschleudert würden. Mittlerweile laufen auch diejenigen Prozesse zumindest teilweise über das Web ab, die 1990 noch über andere Kanäle liefen. Z.B. gab es damals sogenannte Standleitungen, über die zwei Computer direkt verbunden wurden. Da es solche Infrastrukturen nicht mehr gibt, müsste man sie wieder aufbauen. Und bis dahin wäre es ziemlich dunkel (auch der Betrieb von Elektrizitätswerken läuft über das Web).
Die digitale Technologie hat sich durchgesetzt und wird sich vollends etablieren. Sie bringt viel Nutzen, aber auch Schäden. Es ist wie mit der Verkehrs- und insbesondere der Autotechnologie: niemand will auf den Nutzen eines Autos verzichten, trotz der vielen Unannehmlichkeiten, die der Verkehr mit sich bringt.
Konsequenz: Kritisches Denken
Das bedeutet nicht, dass wir die Hände in den Schoss legen sollen. Es gibt angesichts dieser Tatsachen, die ich hier aufgezeigt habe, einen starken Imperativ: kritisches Denken! Kürzlich geisterte die Meldung durch die SoMe, dass ein Flüchtling mit vier Frauen und 23 Kindern monatlich um die 30’000 Euro Unterstützungsgeld erhalte. Das gab natürlich ein Aufruhr in den flüchtlingsfeindlichen Filterblasen! Es wurde zwar nach der Quelle gefragt und diese auch ordentlich herumgereicht, aber niemand überlegte sich, ob das auch stimmen kann und dass das Unterstützungsgeld einer Gruppe proportional zur Grösse der Gruppe steht.
Kritisches Denken und verantwortungsbewusste Skepsis ist eine Fähigkeit, die parallel mit dem Web aufgebaut werden muss. Es muss bereits beim Kleinkind beginnen, also zuhause in der Familie. In den Schulen muss kritisches Denken immer wieder thematisiert und geübt werden. Es braucht neue Curriculae und Kurse, die kritisches Denken trainieren. Wir müssen in Echokammern- und Filterblasen-Diskussionen immer wieder nachfragen, ob das auch wirklich stimmt, wie es aus einem anderen Gesichtspunkt aussehen würde, was dafür und dagegenspricht und ob die sich gerade etablierende Meinung nicht vielleicht übertrieben sei. Je mehr unsere Meinung bestätigt wird, desto skeptischer müssten wir sein. Jemand hat auf Twitter geschrieben, dass der Zeit-Artikel über Gerret von Nordheims Untersuchungen in jeden Unterricht zum Thema «Social Media» gehöre. Alle, die diesen Unterricht genossen haben, hätten dann Parisers Überzeugung. Damit wäre gleich noch eine Filterblase mehr eingerichtet. Es sei denn, der Zeit-Artikel wird kritisch diskutiert.
Wir müssen nicht das Web ändern, sondern unsere Denkweise! Dann ist nämlich auch Poppers Traum nicht in Gefahr. Wir halten an einer Meinung auch dann zwanghaft fest, wenn die Fakten dagegensprechen. Man beschäftigt sich lieber mit einem idealisierten Abbild der Realität, als das eigene Weltbild aufzugeben. Wir haben eine derartige Angst vor Kontrollverlust, dass wir rigide an unserem Weltbild festhalten. Dietrich Dörner nennt das harmlos «vertikale Flucht». Es ist ein Spezialfall des Hangs zur Bestätigung. Wenn etwas gegen unsere Weltsicht spricht, dann schlüpfen wir freiwillig in jede Filterblase, die sich anbietet, ob mit oder ohne Social Media! Das ist die Wirklichkeitsverzerrung, an der wir leiden, nicht die Filterblasen!
(1) Faigle, Philip; Venohr, Sascha: Poppers Traum ist in Gefahr in ZEIT Online vom 9. September 2016
Zitiert mit http://www.webcitation.org/6kVeaditC
Der Beitrag ist für inspirierend und beängstigend zugleich. Inspirierend, weil mir die Bedeutung der Filterblase (bis hin zur Blase der Nazis in den 30ern) in dieser Tiefe nicht deutlich war.
Beängstigend, weil ich seit Jahren eine abnehmende Bereitschaft zum Kritischen Denken feststelle. Bereits in den 90zigern war für mich in Schule zu beobachten, das Jugendliche frühzeitige Anpassung an die Erwachsenenwelt suchen. Konsumverhalten hat diese Sehnsucht unterstützt. Im meinem Umfeld erlebe ich heute, dass Kinder in der 4. Klasse ein Smartphone erhalten und keine weitere Anleitung und Hilfe, auch eine gesunde Skepsis zu entwickeln. Daher feiern z. B. Kettenbriefe als Spam-SMS fröhliche Umstände und die Inhalte werden für valider betrachtet, als das, was Erwachsene dazu sagen. Eine neue Irrationalität und Magie sind wieder Gesellschaftsfähig. Paradox. Und ich bin manchmal ratlos.
Hallo Peter,
wir haben eben nur begrenzte Möglichkeiten „die Wirklichkeit“ zu erfahren – manche sind ja schon in Ihrer Blase „an der Grenze Ihrer Möglichkeiten“.
Das, was Du als „kritisches Denken“ bezeichnest, würde ich Reflektiertheit nennen….
Du hast an anderer Stelle die Idee gehabt Komplexität nutzbar zu machen. Diese Idee gefällt mir richtig gut. Errinnert mich an die Idee Elektrizität nutzbar machen zu wollen (in einer Zeit in der die Welt wusste, dass Blitze „gefährlich“ und zuckende Froschschenkel „unheimlich“ sind =D ).
Da die Wikipedia-Definition eher auf die eigene Unzulänglichkeit verweisst, bevorzuge ich folgende Definition von Komplexität:
Wenn das Menschen- / Weltbild das Ergebnis aus Kommunikation ist, dann entspricht Komplexität der TIEFE der Kommunikation.
Eine solche Definition kann Komplexität vielleicht eher nutzbar machen, weil sie zur logischen Konsequenz führt, tiefer miteinander zu kommunizieren. (Und Oberflächlichkeit evtl. reduziert ;o) ).
Viele Grüße,
Bernd