Kürzlich sah ich eine Dokumentation über die Sea Shepherd Conservation Society, eine militante Umweltschutzorganisation, die sich vor allem gegen den Walfang stark macht. Die Schlauchboote der Sea Shepherd gehen mit den Walfangschiffen auf Tuchfühlung, werfen (von Hand) Buttersäurebeutel auf die Schiffe und Seile in ihre Schrauben. Die Haltung der Sea Shepherd ist: „Wir sind im Krieg und müssen mit Todesopfern rechnen. Wir tun das für die Wale“.
Eines der Hauptprobleme, das die Sea Shepherd haben, ist das Herstellen von „Feindkontakt“, also das Auffinden der Walfänger. Einmal war das Schiff der Sea Shepherd unterwegs zu einem Treffpunkt, den sie pünktlich erreichen mussten, als sie kurz vor Sonnenuntergang ein japanisches Walfangschiff ausmachten. Die Crew war ganz aufgeregt und fragte sich, ob sie trotz nahendem Einbruch der Dunkelheit ein Schlauchboot los schicken sollten. Der Kapitän schlief und sein Stellvertreter entschied, das Schlauchboot auszusetzen. Für die Entscheidung brauchte er keine fünf Sekunden, er fällte sie aus „dem Bauch heraus“. Es wäre fast schief gegangen, d.h. drei junge Menschen hätten beinahe das Leben verloren. Auf dem Schiff der Sea Shepherd kam es zu Missstimmung und Meuterei.
So ist das eben. Wir entscheiden im Alltag jeweils sehr schnell. Wir starren ein wenig in die Luft, wägen gefühlsmässig ab – „sollen wir oder sollen wir nicht?“ – und dann tun wir’s oder lassen es sein. Und wenn wir’s tun, dann mit Begeisterung und meist übermässigem Vertrauen, dass es schon gut kommt. Selten überlegen wir uns, was passieren kann, und was wir dann für Möglichkeiten hätten, um doch an’s Ziel zu kommen oder zumindest zu retten, was noch zu retten ist. Ich meine ja nicht, dass wir jedesmal gleich eine tiefgreifende Analyse machen und mit einem Heer von Experten mehrere Flipchart-Blocks füllen müssen. Abgesehen davon, dass es uns lähmen würde, hätte eine solche Analysierei auch gar keinen Wert. Aber bei folgenschweren Entscheidungen, wenn es um grosse Projekte, grosse Unternehmungen oder gar Menschenleben geht, dürften wir uns schon ein paar Gedanken mehr machen, vor allem, wenn Zeit bleibt1. Im obigen Beispiel musste eine schnelle Entscheidung her (ich hätte dagegen entschieden), aber in den Fällen Tschernobyl (1986) und Deepwater Horizon (2010) (und vielen mehr) war genug Zeit vorhanden, sich die Entscheidungen ein wenig fundierter zu überlegen. Die Chroniken der beiden Katastrophen gleichen sich übrigens auffallend. Sogar die Tatsache, dass beide Einrichtungen mit Preise für ihre Sicherheit ausgezeichnet werden sollten stimmt überein.
Bauchentscheide basieren auf Intuition. Gerd Gigerenzer propagiert sie2, und Andreas Zeuch hat kürzlich ein wunderbares Buch darüber geschrieben3. Intuition ist die unmittelbare ganzheitliche Wahrnehmung einer Situation. Aber intuitive Wahrnehmung kann auch Verzerrungen unterworfen sein. Es ist nicht fair, wenn Menschen, die übermässigem Vertrauen skeptisch gegenüber stehen und durch ein paar zusätzliche Überlegungen abzusichern versuchen, als „Bremser“ stigmatisiert werden. Im Gegenteil: In einer komplexen Welt ist offensichtlich das rein intuitionalistische „Dreinschiessen“ je länger desto kontraproduktiver.
Trainieren Sie ab heute, Ihren bei Ihren alltäglichen Entscheidungen zuzuhören. Achten Sie einmal darauf, wie Sie Entscheidungen fällen. Hören Sie in sich hinein und fragen Sie sich dann, in welcher Hinsicht Ihre Entscheidung fundierter war, als eine Münze zu werfen.
1Peter Addor. Intuitiv-reflektives Projektmanagement. SEM|RADAR Zeitschrift für Systemdenken und Entscheidungsfindung im Management, 2/2010. Herausgeber Falko Wilms, Fachhochschule Vorarlberg, Dornbirn. http://www.staff.fhv.at/wf/semrader
2Gerd Gigerenzer. Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. Goldmann,
München 2008
3Andreas Zeuch. Feel it! So viel Intuition erträgt Ihr Unternehmen. Wiley, Weinheim 2010
Ja, Entscheiden hat was mit Zeit, Denken und Intuition zu tun. Und es stimmt auch, dass Menschen, die sich durch Denken absichern wollen, nicht generell als Bremser da stehen sollten.
Mir gefällt aber die Gegensatzanordnung zwischen Intuition – Denken, schnell – langsam, fehleranfällig – sicher nicht.
Wie Sie selber schreiben, kann Intuition und Denken durchaus zusammengedacht werden und Denken kann genauso „verzerrt“ sein, wie eine Intuition.
Es stimmt, schwerwiegende Entscheidungen benötigen Zeit – aber wofür? H.P. Wallner will Entscheidungen „reifen“ lassen. Das leuchtet mir ein. Aber was passiert beim reifen? Vielleicht wird da tatsächlich gedacht bzw. abgewägt. Aber ich gehe davon aus, dass sich auch ‚im Bauch‘ etwas in der Zeit sortiert, in eine Struktur bringt, die eine (intuitive) Entscheidung zulässt.
Dies ist kein Plädoyer gegen das Denken, aber gegen die Gegensatzanordnung von Kopf und Bauch.
Vielen Dank für Ihren anregenden Artikel.
Vielen Dank, Herr Diedrich, für Ihren kritischen Kommentar. Ich glaube verstanden zu haben, was Sie meinen und habe den Artikel nochmals gelesen. Dabei hatte ich aber nicht den Eindruck, die Gegensatzpaare
Intuition – Denken
schnell – langsam
fehleranfällig – sicher
überstrapaziert zu haben. Zumindest war das nicht meine Absicht. Vielleicht darf ich etwas differenzieren. Ich bin mit Ihnen absolut einverstanden, dass Intuition genau so fehleranfällig oder sicher ist, wie Denken und vice versa. Die Adjektive sind eigentlich überhaupt nicht geeignet, um Verhaltensmuster rund um Intuition, Denken und Entscheiden zu qualifizieren.
Intuition und Denken möchte ich auch nicht gegeneinander ausspielen. Für mich entspringt Intuition dem Langzeitgedächtnis und hat etwas mit Unterbewusstsein zu tun, während Denken sich des Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnisses bedient und etwas mit Bewusstsein zu tun hat. Hingegen glaube ich, dass es im Gehirn keine Entitäten gibt, die das Unterbewusstsein, das Bewusstsein, das Lang- und das Kurzzeitgedächtnis repräsentieren. Vielmehr komme ich je länger desto mehr zur Überzeugung, dass diese Dinge im Gehirn fliessend implementiert sind.
Das würde bedeuten, dass man in den meisten Fällen Denken und Intuition gar nicht strikte trennen kann. Daher liegt es mir fern, die beiden Begriffe strikte zu trennen. Was ich vielmehr sagen wollte ist, dass man schnell mal „zielgerecht“ entscheidet und Fern- und Nebenwirkungen nicht bedenkt oder gar ausblendet. Ein Manager, der von Aufsichtsrat und Aktionären unter Druck gesetzt ist, entscheidet normalerweise für das „bessere“ und lukrativere Geschäft. Fernwirkungen interessieren ihn schon gar nicht, denn über kurz oder lang hat er „höheres“ im Sinn und will nicht ewig auf diesem Job sitzen bleiben.
Es gibt vorhersehbare Ungewisseheiten – genannt „Risiken“ – und unvorhersehbare Ungewissheiten. Die unvorhersehbaren sind unvorhergesehen, weil sie prinzipiell nicht vorhersehbar sind oder weil Sie nicht daran gedacht haben oder sie sich nicht vorstellen konnten. Ich meinte, dass Sie sich vor dem Aussprechen und Umsetzen einer Entscheidung die Risiken bewusst überdenken und sich Mühe geben sollten, sogar das Undenkbare zu denken versuchen.
Herzlichst,
Peter
Hallo Peter Addor
Sie haben die Risiken einer Entscheidung vor Augen und plädieren für eine entsprechend gute gedankliche Abwägung. Menschliche Entscheidungen haben unter dieser Perspektive eine neue Qualität bekommen (vgl. U. Beck: Risikogesellschaft). Dem möchte ich nichts entgegen setzen.
Ich hatte Ihren Artikel aus einer etwas anderen Perspektive gelesen.
Viele Grüße
Ingo