Der geheime Dirigent

Beim Publizieren meiner Fotografien auf diversen Web-Plattformen, insbesondere auf Instagram, lerne ich Erstaunliches. Manchmal werde ich für ein von mir als mittelmässig eingestuftes Bild, von Hunderten von Likes überwältigt und manchmal erhält ein Bild, das ich als Meisterstück gehalten habe, nur eine verhaltene Anzahl Likes. Offenbar haben andere Menschen andere Meinungen, andere Ansichten und sogar andere Gefühle als ich. Das ist zwar eine Binsenwahrheit, aber sie wird meistens bloss als Tatsache zur Kenntnis genommen. Schliesslich gibt es keinen Zweifel, dass meine Überzeugungen natürlich, objektiv und ganz normal sind. Dass es jetzt angebracht ist, in öffentlichen Verkehrsmitteln eine Maske zu tragen, ist doch sonnenklar! Wenn jemand dem widerspricht, dann nur, weil er irgend eine hidden Agenda hat, z.B. weil ihm eine Maske zu unbequem ist oder weil er einfach Lust am Querliegen hat. Gut, da ist viel Politik im Spiel. Aber die Frage, ob ein Bild anspricht, sollte eigentlich wertfrei sein.

„Eine gute Geschichte stirbt nie“ (Roberta Williams)

Überhaupt verhält sich das Publikum, das meine Bilder konsumiert und bewertet, verdächtig einhellig. Manchmal kommt es mir vor, als würde ein geheimer Dirigent meinen Followers sagen, wie sie auf meine Bilder regieren sollen. Ich nehme an, meine Followers sprechen sich ab, wer welches meiner Fotos liken soll und wer nicht liken soll. Die sind sich verdammt einig! Anders kann ich mir das Verhalten meines Publikums nicht erklären. Obwohl … – … obwohl es ja auch sein könnte, dass jeder Follower für sich alleine entscheidet, wenn er denn mein Bild überhaupt zu Gesicht bekommt. Das könnte sehr zufällig sein! Es könnte von sich laufend ändernden Instagram-Algorithmen abhängen, aber auch davon, wer gerade Lust hat, auf Instagram Dutzende meist eher langweilige und sich stets ähnelnde Bilder anzuschauen und sie manchmal zu liken, manchmal auch nicht, weil sie z.B. gerade abgelenkt wurde. Ich erinnere mich, einmal gelesen zu haben, dass es sogar vom Tag der Veröffentlichung und der Veröffentlichungszeit abhänge. Aber solche Zufälligkeiten zu berücksichtigen, ist unbefriedigend. Wenn das tatsächlich so ist, wären meine Steuerungsmöglichkeiten ja sehr beschränkt. Ich könnte die Menschen nicht in Freund und Feind einteilen und niemand für ein schlechtes Resultat beschuldigen, bzw. keine Gruppe identifizieren, die gleicher Meinung ist, wie ich, und die sich mit mir solidarisiert. Ich könnte das Likeverhalten meiner Followers und manch andere Phänomene gar nicht mehr erklären. Ich hätte jegliche Kontrolle über meine Umgebung, ja über mein Leben, verloren!

Jedesmal, bevor ich wieder ein Bild auf Instagram veröffentliche, zögere ich: was wenn es druchfällt? Was wenn es nur eine spärliche Anzahl Likes erreicht? Was, wenn ich wegen einer schlechten Veröffentlichung hunderte von Followers verliere? Ich muss das Publikumsverhalten unbedingt kontrollieren können! Aber ist dieses Verlangen nach Kontrolle letztendlich nicht doch bloss eine Illusion? Vielleicht sollte ich einfach mal völlig entspannt meinen Weg gehen und diejenigen Bilder veröffentlichen, die mir gefallen, sogar wenn ich der Einzige wäre, dem sie gefallen. Ich weiss, dass es da draussen immer Menschen gibt, die (in diesem Fall) denselben Geschmack haben, wie ich und dass es immer auch Menschen gibt, die das ultimativ geilste Bild kritisieren und ablehnen würden. Das Instagrambild mit den meisten Likes – 54,6 Millionen – zeigt einfach ein gewöhnliches Hüherei vor einem weissen Hintergrund und sonst nichts. Ich weiss aus Erfahrung, dass noch nie die besten Produkte auch zwangsläufig den grössten Marktanteil hatten. Klar kann ein gutes Marketing und manchmal sogar ein rechtlich fragwürdiges Vorgehen einen Marktanteil stützen oder gar heben. Klar ist Markeiting letztendlich Manipulation. Jede Institution und Organisation macht, was sie kann und versucht, ein möglichst grosses Stück vom Kuchen für sich abzuschneiden. Nur, wer dann tatsächlich das grösste Stück erhält, ist unvorhersehbar und zufällig. In der Systemtheorie heisst das Selbstorganisation durch Fluktuationen. Es kommen ganz viele Zufälligkeiten zusammen. Daraus kann sich zufällig eine kleine Tendenz herausbilden, die sich dann selbst verstärkt. Solche Tendenzen werden vom System zwar unterdrückt und manche werden abgewürgt. Aber es gibt immer wieder tendenzielle Strömungen, die wiederum zufällig so stark sind, dass sie das System durchdringen und eine neue Mode bilden können.

Meine Geschichte von geheimen Dirigent, der meine Followers steuert, habe ich erfunden, weil ich das eigenartige Verhalten des Publikums irgendwie erklären wollte. Ich hätte zwar unter meinen dreienhalbtausend Followers auch eine Umfrage machen und die Antworten statistisch auswerten können. Ich will jetzt nicht in die Tiefe gehen, aber eine naive Frage stellen und die Antworten in einer Säulengrafik präsentieren, hätte nichts gebracht. Es bräuchte mehr und es wäre sehr aufwändig geworden. Und ob ich danach gewusst hätte, wie sich das Publikum wann warum verhält und ob es gesteuert ist, steht in den Sternen. Vermutlich wäre neben vielen Spesen, nix gewesen. Deshalb ist doch eine handliche Geschichte, an die ich glauben kann, viel effektiver. Ich kann damit auch bei Kollegen und Vorgesetzten punkten. Die verstehen nämlich eine Geschichte auch sofort viel besser, als die ausgeklügeltsten parametrischen oder nicht-parametrischen Tests statistischer Daten.

„Man kann meistens erst Rückblickend sagen, was große Bedeutung hatte“ (Web Zitat)

Wenn ich mir meine letzten Bilder so ansehe, dann ist es mir eigentlich klar, weshalb das eine Bild derart viele Likes bekam und das andere nur mässigen Zulauf. Wenn ich jetzt mal ganz ehrlich zu mir bin, dann musste dieses Bild ja viele Likes bekommen! Das nächste Mal weiss ich, worauf ich schauen muss. So! Jetzt habe ich endlich eine Handhabe, um zu entscheiden, was genau beim Publikum ankommt und was nicht. Aber, oh weh! Bei nächsten Mal ist es eben wieder nicht klar. Soll ich dieses oder jenes BIld publizieren? Ich zögere: was wenn es druchfällt? Was wenn es nur eine spärliche Anzahl Likes erreicht? Was, wenn ich wegen einer schlechten Veröffentlichung hunderte von Followers verliere? Warum zum Teufel gelingt es nicht, aus dem Verhalten der Followers auf meine letzten Bilder auf das Verhalten zu einer neuen Veröffentlichung zu schliessen? Ist die Akzeptanz eines Produkts doch eher ein Zufallsresultat? Möglicherweise ist die Erklärung, warum das eine Foto so stark bewertet wurde, während das andere durchfiel, nur ist wieder so eine Geschichte, die ich mir aus den Fingern gesogen habe. Im Nachhinein ist es eben immer viel einfacher, eine Situation zu werten und zu erklären.

Aber dennoch: gerade habe ich wieder gelesen, wie verdammt hinterlistig Instagram ist. Es ist ja derselbe Laden, wie Facebook. Solchen Organisationen sind nicht zu trauen, sie sind sogar gefährlich! Es soll mir keiner sagen, dass es keine geheimen Absprachen zwischen Facebook/Instagram/Whatsapp und Google/youtube etc. gibt. Die haben uns voll im Griff und machen mit uns, was sie wollen. Das Followerverhalten über meine Fotos kann der Zuckerberg mit dem kleinen Finger manipulieren! Aber dann muss er ja viel Neider haben. Wer über so viel Macht verfügt, wird argwöhnisch beobachtet. Der kleinste Fehler wird immer gleich gegen ihn verwendet. Können die Mächtigen und Schönen tatsächlich so locker Absprachen mit der Konkurrenz machen, ohne befürchten zu müssen, dass sie sich gegenseitig über’s Ohr hauen? Können sich die Mächtigen wirklich gegen uns verbünden, während sie sich gegenseitig bekriegen? Klar sage ich einem Polizisten nicht, er sei ein Blödmann, weil er mich festnehmen will, weil das mir zum Nachteil gereichen könnte. Aber in seinem Leben hat der Polizist vielleicht weniger Möglichkeiten, glücklich zu werden, als ich. Also, was will ich?

Kann es wirklich einen Dirigenten geben, der meine Followers steuert, wenn doch alles einerseits enorm verzahnt und fragmentiert ist, andererseits nichts gemacht werden kann, ohne dass es sofort bekannt wird? Unter meinen Followers gibt es vermutlich paar hundert Bots. Das sind fake Profile, hinter denen gar kein Mensch steht. Sie sind von Hackern erstellt worden, die im Dienste verschiedenster, sich gegenseitig konkurrenzierender Herren stehen, zwecks gegenseitiger Verwirrung. Das gäbe meinem erfundenen Dirigenten aber gehöriges Kopfzerbrechen. Er ist wirklich nicht zu beneiden!

Niemand kann mein Instagrampublikum in einheitlicher Art und Weise kontrollieren. Die Macht Einzelner oder einer Elite wird aus der Froschperspektive immer überschätzt. Auch Kylie Jenner, die sieben der 20 Instagrambilder mit den meisten Likes veröffentlicht hat, hat manchmal Zoff mit Travis Scott oder Sorgen um Stormi. Dagegen kann sie nichts machen, trotz ihren 185 Millionen Followers und ihrem milliardenschweren Vermögen.

Und nein, neben dem Link zu meiner Instagram-Galerie gibt es diesmal absichtlich keine weiteren Quellenangaben.

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