Die Sache mit dem kritischen Denken oder Glaube ist nicht kritisch

Die Kompetenz „Kritisches Denken“ im 4K-Modell des Lernens 4.0 – alternativ auch „Augenhöhe-Lernen“ genannt, einige sprechen fälschlicherweise von „Augenhöhe-Schulen“, was ja ein Widerspruch in sich selbst ist – die Kompetenz „Kritisches Denken“ ist die Fähigkeit zum selbstständigen Denken. Es geht dabei darum, Fakten, Meinungen und wissenschaftliche Erkenntnisse kritisch zu hinterfragen.

Aufmerksamkeitshascherei

Kritisch hinterfragen wird jedoch gerne mit unterschiedlichem Glauben verwechselt. Wer nie die Gelegenheit hatte, selbstständig zu denken, glaubt, er denke, wenn er glaubt. Um den Glauben zu durchbrechen, braucht es ein anderes „K“ – nämlich das kreative Denken. Kreativität ist zwar eher Talent, denn Kompetenz. Aber beim kreativen Denken geht es lediglich darum, auch mal querzudenken. Kreatives Denken ist, das zu denken, was dem eigenen Glauben widerstrebt und zu sehen, welche Konsequenzen sich daraus ergeben.

Der Glaube der Alten, dass die Erde eine Scheibe sei, war keine wissenschaftliche Erkenntnis, weil ihr keine Argumente zugrunde lagen. Es war eben nichts anderes als ein Glaube. Das ist der Unterschied zwischen Glauben und wissenschaftlicher Erkenntnis.

Mittlerweile sind unsere Erkenntnisse auf einem Niveau angelangt, dessen Argumente fast nur noch von Experten nachvollzogen werden können. Auch das ist eine Facette der Komplexität der modernen Welt. Das macht es so schwer, das Wissen unserer Zeit zu verstehen und kritisch zu hinterfragen.

Etwas Unverstandenes wird zunächst abgelehnt. Wenn sich ein Komiker über das Unverstandene lustig macht, dann ist es für die Menschen wie eine Befreiung zu erfahren, dass sie in ihrem Unverständnis nicht alleine sind. Anstatt zu versuchen, das Unverstandene gemeinsam verständlich zu machen, also kollaborativ zu lernen, lehnen sie es gemeinsam ab, was natürlich ökonomischer ist. Kollaboratives Lernen wäre auch eine K-Kompetenz.

Wer unverstandene wissenschaftliche Erkenntnisse in Frage stellt, wird von den Menschen, die auch nicht verstehen, Applaus und ungeteilte Aufmerksamkeit ernten, was der Selbstoptimierung zugute kommt.

Der Psychoanalytiker Peter Schneider sagt zu Selbstoptimierung:

Es gibt heute tatsächlich eine Art von Selbstoptimierung, die viel Stress verursacht und die die Abhängigkeit vom anderen auf eine seltsame Art verkennt. Man optimiert sich ja primär für die Anerkennung von anderen. Sei es mit Make-up, mit Sport und Diäten, mit Coachings oder sogar Therapien

oder mit markig-kernigen Ansichten auf den Sozialen Medien.

Unkritisches Geschnatter auf den Sozialen Medien

Aufmerksamkeitsgenerierung ist die Essenz der Sozialen Medien. Sie sind genau dafür designed. Sie arbeiten mit denselben Tricks, wie ein Zauberer, der die Aufmerksamkeit des Publikums lenkt (s. dazu „Wie Technologie unseren Geist manipuliert“ von Bob Blume). Ich finde das nicht weiter verwerflich. Auch das Automobil hat seinen manipulativen Einfluss auf den Geist.

Blogartikel von Stephanie Frasco auf https://www.convertwithcontent.com/3-ways-to-make-your-social-media-posts-attract-the-right-attention/

Social Media sind vor allem Marketing-instrumente: die Aufmerksamkeit auf ein Produkt oder Angebot zu lenken. Diese Funktion sozialer Medien nutzen denn auch (nicht-kommerzielle) Individuen, um ihre Meinungen und Glaubenssätze zu plazieren.

In letzter Zeit wundere ich mich sehr, was in den Social Media alles so gewusst und behauptet wird. Vor allem in Facebook, dessen Timeline für mich die Boulvardpresse unter den Social Media ist, tauchen vermehrt ernsthafte Themen mit hohem moralischen Anspruch auf. Da lese ich, was man darf und soll und was auf keinen Fall, was gut und was schlecht ist und dass sich die Menschheit sowieso auf dem Weg in den Abgrund befindet, wenn jetzt nicht sofort etwas getan wird. Nicht selten werden Glaubenssätze diskutiert, die weder überprüfbar noch sonstwie haltbar sind. Vieles kratzt hart an der Grenze zu Verschwörungstheorien oder Esoterik.

Es scheint mir, dass viele versuchen, auf Teufel komm raus originell zu sein. Ein einfaches Rezept für Originalität ist, bestehende Vorstellungen und Erkenntnisse mit möglichst schrägen Behauptungen scheinbar zu widerlegen. Wenn beispielsweise empfohlen würde, eine Aufgabe immer auf den letzten Moment zu verschieben, entgegen der Untugend der Prokrastination, mit der Begründung, dass jederzeit die Welt untergehen könnte und in diesem Fall dann viele Anstrengungen vergebnes gewesen wären, wäre das originell und könnte dazu beitragen, Aufmerksamkeit zu erregen. Aufmerksamkeitserregung ist womöglich eine Antriebsfeder für alle diese pfiffigen Beiträge und Kommentare, die sich in letzter Zeit in meiner Facebook-Timeline häufen.

Ein grosser Anteil der wunderlichen Beiträge auf Social Media sind Zukunftsvisionen. Es ist durchaus in Ordnung, wenn mögliche Zukunftsszenarien diskutiert werden. Mittlerweile geben immer mehr Beiträge vor, genau zu wissen, wie die Zukunft sein wird und in moralischen Aufrufen zu enden. Viele Beiträge wollen nicht nur genau wissen, was die Zukunft bringt, sondern gleich auch noch, was heute getan werden muss, um diese Zukunft zu verhindern. Um das zu untermauern, werden nicht selten Persönlichkeiten zitiert, die zu Ikonen auf dem Gebiet stilisiert werden.

Pseudowissenschaft am Biertisch

Auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz (AI) haben beispielsweise Stephen Hawking und Elon Musk einen solchen Ikonenstatus. Der eine versteht etwas von Schwarzen Löchern, der andere von Geld und Unternehmensgründungen. Beide haben weder auf AI geforscht noch ernsthaft darüber publiziert. Egal was diese Ikonen gerade von sich gegeben haben, es wird in den Sozialen Medien sogleich zur Untermauerung von noch so abstrusen Zukunftsvisionen missbraucht (und inhaltlich vielleicht sogar etwas angepasst…wer prüft’s schon nach). Wirkliche AI-Experten, wie Jürgen Schmidhuber oder Eliezer Yudkokswy sind zwar kompetenter, haben aber nicht diesen Ikonenstatus. Sie sprechen halt von neuronalen Netzwerken oder vom Satz von Bayes, wieder so unverständliche Dinge, die erst noch nach Mathematik riechen.

Eine andere Kategorie von Beiträgen befasst sich mit allerlei ethischen Fragen, insbesondere im Managementumfeld. Meistens sind das solide und durchaus brauchbare Handlungsanweisungen aus der normativen und angewandten Ethik. Manchmal schiessen die Beiträge aber auch weit über das Ziel hinaus und ihre Autoren verbeissen sich in bizzare Gedankenkonstruktionen, die sie mit pseudowissenschaftlichem Unsinn oder mit Zitaten von wenig bekannten Wissenschaftlern schmücken, deren wirre Theorien den Durchbruch nie geschafft haben.
Alan Sokal spricht von „Elegantem Unsinn“ (Sokal/Bricmont.  Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen. C. H. Beck, München, 1999. ISBN: 3406452744 / 3-406-45274-4)

Bei einigen Managementethikern habe ich dieselbe Strategie beobachten können, wie bei hartgesottenen Zukunftsvisionären: man formuliert eine populäre Befindlichkeit in knackig-originellen Parolen, um die Zustimmung des Publikums zu ergattern.

Das genaue Hinschauen, die präzise Analyse und die angemessene sprachliche Vermittlung eines Sachverhaltes entsprechen nicht unbedingt der kollektiven Bedürfnislage unserer Epoche

(Nicholas Mailänder). Also macht man sich lustig über Analyse und Präzision, um die Lacher auf die eigene Seite zu ziehen. Das klappt umso mehr, wenn man Analyse und Präzision noch in die Nähe von Mathematik rückt, die sowieso nur die wenigsten verstehen wollen.

Manchmal klingt es fast biblisch: „Die Strafe wird kommen, tut Busse und kehret um!“. Die Umkehr wäre eine gesellschaftsweite Verhaltensänderung. Der Aufruf alleine nützt aber nichts. Er dient lediglich der Aufmerksamkeit des Propheten. Wer für den Verzicht von Plastikpackungen eintritt, erhält jede Menge Zustimmung. Es ist ja tatsächlich unverschämt, was in der Umwelt für Plasticmüll herumliegt. Von mir stammt der jedenfalls nicht. Es sind die anderen, die solchen Müll liegen lassen. Biertischmässiges Poltern gegen Plasticverschwendung erzielt keine allmähliche Sensibilisierung der Massen. Man generiert höchstens Aufmerksamkeit, die sich in Likes und Zustimmung manifestiert, was aber nicht nachhaltig ist.

Wäre es nicht sinnvoller, solche Themen in Fachgruppen zu diskutieren, z.B. in einer entsprechende Facebookgruppe, anstatt sie in die Timeline herauszuposaunen?

Im Moment macht folgendes Zitat auf den SoMe die Runde

Es ist ziemlich faszinierend, dass unsere Gesellschaft an einem Punkt angekommen ist, an dem es einfacher erscheint, in Skandinavien Bäume zu fällen, nach Asien zu verschiffen, unter hohem Wasserverbrauch und Energieaufwand Becher daraus zu formen, diese mit Plastik zu beschichten, welches zuerst gefördert, raffiniert und mit Chemikalen versetzt aufbereitet werden musste, alles zurück nach Europa zu schiffen, mit dem LKW quer durch’s Land zu transportieren, den Papbecher fünf Minuten zu benutzen und dann in den Müll zu werfen, anstatt die Keramiktasse zurück zu bringen, wo sie einfach gespült wird

Das ist nicht nur faszinierend, sondern erschreckend. Was hier steht, ist eine Kurzbeschreibung globaler und hochspezialisierter Produktionsprozesse, die tatsächlich noch viel komplizierter und verschachtelter sind als hier dargestellt. Dennoch weiss ich jetzt nicht, was ich mit diesem versteckten moralischen Aufruf soll. Vielleicht habe ich keine Zeit, einen Kaffee in einer Keramiktasse vor Ort zu trinken. Zum Mitnehmen gibt’s bisweilen bloss die Pappbecher. Pappbecher sind für Veranstalter eben billiger, als Keramikgeschirr auszugeben, es zu verwalten und zu reinigen. Pappbecher sind so billig, dass alle die Prozesse, die im Zitat erwähnt wurden und alle nicht-erwähnten zusammen, immer noch Gewinn abwerfen, obwohl sie fast nichts kosten.

Bevor jetzt ein Entrüstungssturm über die kapitalistischen Gewinnmaximierer losgeht: oft sind gar nicht mal Kapitalisten dahinter. Es gibt viele lockere digitale Nomaden, die z.B. Pappbecher einkaufen und auf Amazon im grossen Stil anbieten. Erfolg haben sie vielleicht dadurch, dass sie ein paar Prozent billiger anbieten, als bisherige Pappbecheranbieter und bewusst auf das grosse Geld verzichten. Sie können damit in Ho Chi Minh City oder Denpasar immer noch sehr gut leben und ihre Freiheit geniessen. Einige haben bei diesem Geschäft noch so viel Zeit, um in Social Medien oder Blogs das Abholzen skandinavischer Wälder kritisch zu hinterfragen.

Kritisches Denken ist eher still

Damit möchte ich digitales Nomadentum, Amazongeschäfte oder mobile Arbeit in keiner Weise herabwerten. Im Gegenteil: würden alle so arbeiten, hätten vielleicht alle Zeit, den Kaffee vor Ort in einer Keramiktasse zu trinken und müssten nicht mit einem Pappbecher auf die S-Bahn oder zum nächsten Termin hetzen.

Kritisches Denken ist nicht, sich über eine fehlgeleitete Entwicklung zu entrüsten. Kritisches Denken ist die Bemühung, die Zusammenhänge zu verstehen. Das benötigt bei deren Komplexität intensives Studium und viel Wissen. Vorschläge zur Verhaltensänderung, das einzelne „Denker“ in den Sozialen Medien für eine Gesellschaftsgruppe vorschlagen, lassen manchmal das nötige Verständnis für komplexe Neben- und Fernwirkungen vermissen.

Kritisches Denken allein reicht nicht. Die 4 Ks müssen durch „komplexes Denken“, also systemisches Denken, erweitert werden. Gründe, Zusammenhänge, historische, ökonomische und psychologische Tatsachen sowie Funktionen der Entwicklungen müssen sachlich diskutiert und soweit verstanden werden, wie es möglich ist. Das benötigt genaues Hinschauen, präzise Analyse und angemessene sprachliche Vermittlung (K, wie „Kommunikation“). Das Gegenteil davon wäre, seine Glaubenssätze oder was einem grad gefällt in die Social Medien hinauszuposaunen und hässig zu reagieren, wenn es auf Gegenwind stösst, um möglichst viel Aufmerksamkeit zu erzeugen.

Zum Schluss nochmals der Psychoanalytiker Peter Schneider:

Im Alter, sagen wir in den letzten zehn Jahren, hat bei mir die Vorstellung abgenommen, dass jemand nur dann interessant ist, wenn er [knackig-]originelle Thesen produziert. Ich habe eher die Erfahrung gemacht, dass die meisten starken Thesen völliger Humbug sind

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