Seit geraumer Zeit denke ich über den Begriff der Eliten nach. Eigentlich erstaunt es mich, dass Eliten überhaupt Forschungsgegenstand der Soziologie sind, obwohl das Phänomen in allen Gesellschaften gleichermassen auftaucht. Sogar in Tiergesellschaften gibt es Eliten, ohne die die Horde oder Gruppe gar nicht funktionieren täte.
Verschiedene Elitetypen
Es soll ja Menschen geben, die mit Eliten ihre liebe Mühe haben. Dabei gibt es Eliten und Eliten. Die meisten denken wohl zuerst an Machteliten, die in der Schweiz auch gerne Classe Politique genannt wird. Aber es gibt auch die Leistungselite, zu der u.a. die Bildungselite gehört und aus überdurchschnittlich qualifizierten Personen besteht. Oft sind sie Absolventen von Eliteuniversitäten. Und dann wird auch etwa von der Funktionselite gesprochen. Das sind meistens gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer, die besondere Kampfkraft gegenüber den Grossunternehmen haben, wie z.B. Verkehsrpiloten, Fluglotsen, Spitalärzte oder Vertragsspieler in Sportvereinen. Die tiefgreifende Skepsis gegenüber Eliten bezieht sich aber meist auf die politische Machtelite und auf den Teil der Leistungselite, die die etablierte Machtelite unterstützt. Diese Eliten hätten die Macht, Entscheidungen zu treffen, die das Leben der „gewöhnlichen Leute“ wesentlich beeinflussen. Nicht nur das: die Elite bestimme die gesellschaftliche Entwicklung, behaupten die Skeptiker. Und die gibt’s mindestens seit den späten 1960er Jahren, als die Boomer sich gegen das Establishment aufgelehnt haben, um einen anderen Begriff als „Eliten“ zu verwenden. Viele der damaligen Protestierer fanden später selbst in die Machtelite, haben aber kaum etwas bewirkt.
Die meisten Mitglieder der Machtelite tragen wenig zur Entwicklung der Gesellschaft bei. Umgekehrt gibt es viele Individuen aus der Masse, die plötzlich sehr viel zur gesellschaftlichen Entwicklung beitragen können. Ich denke z.B. an Greta Thunberg, die vor ihrem Schulstreik gewiss zu der Masse gehörte. Es geht hier nicht darum, ihren Beitrag zu würdigen oder zu kritisieren. Thunberg ist einfach ein Beispiel für ein Masseninividuum, das plötzlich die Gelegenheit erhielt, die gesellschaftliche Entwicklung mitzubestimmen. Sie hat das Leben der „gewöhnlichen Leute“ wohl mehr beeinflusst, als die meisten Mitglieder der etablierten Elite. Damit ist gezeigt, dass Eliten nicht immer die treibende Kraft gesellschaftlicher Entwicklung sind und dass diese oft auch von der Masse ausgehen kann.
Elite und Gegenelite
Ein früher Eliteforscher, Vilfredo Pareto, unterschied zwischen der eigentlichen Elite und einer Reserve-Elite.
Die der [aktuellen] Elite gegenüberstehende Reserve-Elite versammelt in sich Eigenschaften, die jene strukturell vernachlässigt, und vermag durch eine Mobilisierung der „Masse“ zur neuen Elite zu werden. Die Masse selbst übernimmt nie die Herrschaft. Sowohl die herrschende Elite als auch die nicht-herrschende Gegenelite bedienen sich … Erfolg versprechender Derivationen, um die Masse zu täuschen und zu ideologisieren
meint Pareto. Eliten sind also nicht sehr stabil. Paretos Beschreibungen erinnern an die Ereignisse von 1968. Die Gegen-Elite hat die Masse ideologisiert und mobilisiert, um sie auf die Strasse zu bringen. Die Gegen-Elite marschierte mit und ersetzte nach und nach die alte Elite. Wer hat denn nun hier eine gesellschaftliche Entwicklung bestimmt, die es ja in der Tat gegeben hat: die Gesellschaft wurde individualisitischer, freiheitlicher, offener, gewaltloser und umweltbewusster. Das hat weder die alte, noch die neue Elite entschieden. Durch die Ideologisierung begann die Masse nachzudenken, Marx zu lesen und Forderungen zu stellen. Es war die Masse, die die gesellschaftliche Entwicklung bestimmte! Leider war sie nicht sonderlich nachhaltig, denn bald gingen Offenheit, Gewaltlosigkeit, Freiheitlichkeit und Umweltbewusstsein verloren. Übrig blieb ein in’s Extreme getriebener Individualismus. Auch das hat die Masse zu verantworten und nicht die Elite. Wenn solche Entwicklungen die Masse erfassen, dann kippt das System zu ihren Gunsten. Gesellschaftliche Entwicklungen sind wie Moden.
Der deutsche Eliteforscher Michael Hartmann will mit „Studien“ beweisen, dass die Elite mit Hilfe der jeweiligen Politik von Regierungen die soziale Ungleichheit vorantreibe. Was ich von „Studien“ halte, habe ich in meinem Blogartikel Die Wissenschaft soll’s richten dargelegt. Zudem ist Hartmanns Behauptung verwirrend: die Regierung gehört zur Elite und ist nicht deren Handlanger, wie es die Behauptung glauben macht. Zu behaupten, dass die Elite durch Destabilisierung demokratischer Strukturen die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer mache, greift viel zu kurz und betrifft ganz andere Phänomene als das der Elite.
Selbstorganisation
Begreift man das Eliteproblem systemtheoretisch, so präsentiert es sich eher als ordnendes Kraftgefälle, ähnlich wie der Temperaturgradient im hydrodynamischen Bénardsystem, über das ich mehrere Male berichtet habe, wie z.B. hier: Hilft kritisches Denken? In diesem Sinne bietet sich Pierre Bourdieus Feldbegriff an. Die Elite ist eines von mehreren Feldern innerhalb einer übergeordneten Feldstruktur, die die Gesellschaft bestimmt. Bourdieu schreibt in seiner Logik der Felder:
Jedes dieser Felder hat seine Herrschenden und Beherrschten, seine Kämpfe um Erhalt oder Umsturz, seine Reproduktionsmechanismen.
Pierre Bourdieu: Die Logik der Felder. In: Pierre Bourdieu, Loic Wacquant (Hrsg.): Reflexive Anthropologie. Surkamp, Frankfurt 1996
Jede Elite ist somit ein Randwert des dynamischen Systems Gesellschaft. In einem dynamischen System ist jede Wirkung die Ursache für eine neue Wirkung. Es gibt eben keine linearen Ursache-Wirkungsketten, wie viele Kontrollfans erhoffen. Als die Elite der 68er Bewegung die Massen mobilisierte, hat genau diese Masse einen gesellschaftlichen Wandel verursacht, der sich in den 2000er Jahren auf die Machtelite auswirkte. Die gesellschaftliche Entwicklung kann niemals ein Mensch alleine bestimmen, egal über wie viel Macht er verfügt. Die gesellschaftliche Entwicklung bestimmt immer die Masse, als Reaktion auf die Aktionen der Elite, die ihrerseits auf die Masse reagiert. Das nennt sich Selbstorganisation. Kein Individuum und keine Elite oder sonstige Gruppe ist allein verantwortlich. Selbstorganisation ist das ungewollte Resultat des Zusammenspiels aller beteiligten Felder. Und meistens passiert genau das Gegenteil von dem, das die einzelnen Felder beabsichtigten. Die Entwicklung ist zum Glück unvorhersehbar.
Das soll nun keineswegs irgend eine böse Absicht verharmlosen. Gerade unter wirtschaftlichen und politischen Machteliten ist viel kriminelle Energie vorhanden. Kriminelle Eliten sind aber nicht nur in offiziellen Führungsetagen von Wirtschaft und Politik zu finden. In allen Gesellschaften gibt es viele Organisationen, die ebenfalls kriminelle Felder verkörpern. Manchmal sind es genau diese inoffiziellen Eliten, die als Reaktion auf die offiziellen Eliten aus der Masse emergiert sind.
Lügen
Der SWR2-Betrag Die Macht der Eliten beginnt mit den Worten:
Man kennt sich – und bleibt unter sich: Die Elite in Deutschland ist ein kleiner Kreis.
Das könnte den Eindruck erwecken, als wäre dieser „kleine Kreis“ wie eine Familie, in der sich alle umeinander kümmern und einander helfen. Und um ihre Interessen durchzusetzen, würde diese elitäre Familie die Masse laufend einhellig anlügen. Das Gegenteil ist der Fall: sie zerfleischen sich gegenseitig. Auch wenn sich eine Elite zu einer Lüge verabreden könnte, bleibt sie nur so lange aufrecht, bis sie einem der Elitemenschen zum Nachteil gereicht. Gemeinsame Aktionen sind der Masse vorenthalten. Eliten sind dazu gar nicht fähig, weil sie viel zu instabil sind.
Andererseits stimmt es natürlich, dass wir laufend angelogen werden. Das hat aber nichts mit dem Eliteproblem zu tun. Z.B. gibt es einen Markt für schwarze Oliven, d.h. es gibt Konsumenten, die schwarze Oliven haben möchten. Wenn Sie Geld verdienen wollen – und das müssen Sie, um zu überleben – dann könnten Sie also auf die Idee kommen, schwarze Oliven zu verhökern. Nur sind schwarze Oliven teuer, weil sie ein oder zwei Monate länger am Baum hängen müssen, als die frischen grünen. Wenn Sie also den regulären Preis natürlicher schwarzer Oliven bezahlen und eine Marge berücksichtigen, kommen Sie auf einen Preis, den ihnen nur sehr wenige Schwarzeolivenliebhaber bezahlen. Was tun? Kaufen Sie billige grüne Oliven und behandeln Sie diese mit Eisengluconat! Dann werden sie schwarz und Sie können preiswerte schwarze Oliven anbieten und erst noch etwas daran verdienen. Ihre Konsumenten glauben, echte schwarze Oliven zu einem Schnäppchenpreis gekauft zu haben und sind glücklich.
Eine ähnliche Lüge macht im Zusammenhang mit der aktuellen AI-Diskussion die Runde: Wenn Sie mit einem sehr modernen Mobiltelefon z.B. den Mond fotografieren, werden Sie erstaunt sein, wie gut so ein Handyfoto ist. Grossartig, was die heutige Technik nicht alles kann! Nur liegt das nicht an der Fototechnik, die im Mobiltelefon verbaut ist, sondern daran, dass Ihnen Dank AI nicht Ihr Bild präsentiert wird, sondern eines, das die AI aus Millionen von Mondaufnahmen ausgelesen hat. Zugegeben, ein paar Pixel von Ihrer Aufnahme werden im Bild noch vorhanden sein, aber der Grossteil kommt aus einer Fremdaufnahme. Da könnten Sie gerade so gut im Web nach einem schönen Mondbild suchen, als selber den Mond fotografieren.
Wenn wir gerade bei AI sind: ChatGPT lässt grüssen! Ich hoffe, Sie haben nach meinem Beitrag Die Wissenschaft soll’s richten vom Januar den Bot einmal ausprobiert, nachdem auf Newsportalen jeder zweite Artikel und in Twitter jeder dritte Tweet davon handelt. Eigentlich wäre ChatGPT kaum der Rede wert, benutzen wir doch seit Jahren AI in Übersetzungs- und Fotobearbeitsungsprogrammen. Aber jetzt, da jederman eine AI frei benutzen kann, die keinen anderen Zweck verfolgt, als gehobene Unterhaltung zu machen, fahren alle darauf ab. Sogleich wittern alle das grosse Geschäft und bieten teure Kurse an. Ich weiss nicht wozu. Alles, was man in diesen Kursen lernt, kann man auch frei von ChatGPT direkt bekommen. Ich habe sogar gelesen, dass es jetzt ChatGPT-Flüsterer-Jobs mit 400 KEuro Salär gebe. Wer’s glaubt, kann versuchen, einen solchen Job zu ergattern. Aber allein das Gerücht zeigt, wie plötzlich ein Narrativ entsteht, das alle glauben machen soll, dieses ChatGPT sei eine Emergenz par Excellence, durch die sich die Welt für die einen zum Besseren und für die anderen zum Schlechteren wenden wird. Ist ein Narrativ bereits Lüge? Jedenfalls ist es ein gegenseitiges Einreden von Überzeugungen. Wenn sie Millionen nachplappern – auch wenn sie nicht stimmen – werden sie zur Gewissheit. Millionen können sich (doch) nicht irren!
Lügen oder schönen?
Lügen haben nicht Eliten erfunden. Vielmehr lügen wir laufend selber (oder soll ich sagen: „schönen“ statt „lügen“?). Dass z.B. bei wissenschaftlichen Arbeiten geschönt wird, ist sattsam bekannt. In Studien wird der p-Wert so hingebogen, dass er beweist, was der Autor beweisen will. Mit langen Zitaten, von denen man vergisst, sie als Zitate auszuweisen, können Artikel und Arbeiten aufgebohrt werden. Ab und zu strauchelt dann jemand über den Vorwurf des Plagiats.
Der Business Insider Artikel Ich habe in meinem Lebenslauf gelogen, um einen besser bezahlten Job zu bekommen – warum ihr das auch tun solltet stammt vom 7. April 2023. Wer seinen Lebenslauf nicht schönt, hat gegen diejenigen, die schummeln, keine Chance.
Das Auftauchen von Eliten ist ein Selbstorganisationphänomen. Sehr viele Menschen gehören irgend einer Elite an, aber es gibt einflussreichere und weniger einflussreiche Eliten. Das Streben nach wirtschaftlicher Macht, die Verursachung sozialer Ungleichheit und das Schönen von hässlichen Tatsachen oder gar Lügen, um jemand zu täuschen, hat weniger mit dem Phänomen der Eliten zu tun, als vielmehr mit der Institution des Geldes. Das Geld löste die Tauschwirtschaft ab, weil Bedürfnisse nicht synchron auftreten. Der Fischhändler erhält vom Dachdecker eine Gutschrift in Form von Geld. Nur, wie will man Fische und Dachdeckerdienste vergleichen? Dass da jeder versucht, einen Dukaten mehr zu seine Gunsten zu verrechnen, ist naheliegend. Der Wert einer Ware richtet sich nach der Nachfrage. Hier taucht dann schon mal das Bedürfnis auf, den Markt über den Wert der Ware zu täuschen, so dass ein höherer Absatz erzielt werden kann.
Mit diesem Blog outest Du Dich, lieber Peter, eindeutig als Mitglied der Intellektuellen-Elite…
Eigentlich schade, denn wie Du selbst nachweist, bewirken Eliten nichts…😉
Habe die Lektüre trotzdem genossen und einiges gelernt, z.B. den Trick mit den schwarzen Oliven…😜
Nein, Peter, leider keine bessere Idee. Aber immer viel Vergnügen beim Lesen Deiner Gedanken.
Liebe Grüsse
Elisabeth