Es gibt Menschen, die lassen sich einfach nicht überraschen

Das Bild ist gewiss eine Überraschung! Allerdings ist es eine Fälschung. Frau Merkel hat meines Wissens nie in einer Kochsendung mitgewirkt und wenn, sicher kein angewidertes Gesicht gemacht.

Wie reagieren Sie auf etwas wirklich über-raschendes? Die einen sind sofort bereit, alles, was sie glauben und wissen, über Bord zu werfen und ihr Weltbild neu zusammen zu setzen. Andere heben bloss ihre Achseln und gehen zur Tagesordnung über. Letztere meine ich mit dem Zitat des polnischen Lyriker Stanislaw Lec:

Manche leben mit einer so erstaunlichen Routine, dass es schwer fällt zu glauben, sie lebten zum ersten Mal

Ich habe in diversen Blogartikeln zahlreiche praktische Beispiele beschrieben, die zeigten, dass unsere Wahrnehmung von der Welt und insbesondere von Führungs- oder Projektsituationen alles andere als der Wirklichkeit entspricht. Mit anderen Worten: So wie wir meinen, ist das Projekt oder die Managementsituation gar nicht. Wir unterliegen zu jeder Zeit Wahrnehmungsverzerrungen und haben eigentlich keine Ahnung, wie es um unser Projekt oder unsere Unternehmung wirklich steht.

Diese überraschende und verwirrende Tatsache sollte eigentlich alle, die sich mit Fragen der Führung und des (Projekt-)Managements befassen in höchstem Mass beunruhigen. Tut sie aber nicht! Einige verstehen gar nicht, worum es geht. Sie nehmen daher die Botschaft gar nicht wahr. Andere sind eben diejenigen, die mit erstaunlicher Routine leben. Sie sind derart mit Informationen zugedeckt, dass sie gleichgültig geworden sind.

Dabei wäre das Verständnis unserer Kognitionstechniken zentral im Umgang mit Unvorhergesehenen. Eine Kognitionstechnik ist z.B. das Priming. Es geht darum, die mehrheitlich automatisch ablaufenden Teile der Kognition auf einen bestimmten Themenkreis einzuschiessen. Testpersonen, die sich mit dem Alter zugeordneten Begriffen beschäftigten, gehen danach bedächtiger und gebeugter. Amerikaner, die sich gegenseitig immer wieder beteuern, ihr Land sei der mächtigste Staat, glauben an die Weltpolizistenrolle der USA und an ihre Unfehlbarkeit. Projektmitarbeiter, die zu 75% im Projekt A und zu 25% im Projekt B tätig sind, werden dem Projekt A urteilsmässig den Vorrang geben.

Das gilt ganz besonders dort, wo ein IT-System durch eine zentrale Stelle parallel in verschiedenen Integrationsprojekten ausgerollt wird. Das umfangreichste Projekt primt die Projektmitarbeiter. Sie denken eigentlich nur in Kategorien dieses einen Projekts. Die anderen werden gar nicht richtig wahrgenommen. Wenn von 10 Rollout-Projekten das grösste den Umfang von 10 Millionen hat, das zweit grösste fünf Millionen, das dritt grösste zwei Millionen und alle anderen weniger als zwei Millionen, dann besteht die Gefahr, dass die sieben oder acht kleineren Projekte scheitern, was gewisse Erfolgsstatistiken erklärt.

Geprimte Wahrnehmung führt zu kognitiver Leichtigkeit in dem Sinne, dass sich die Situation gut und vertraut anfühlt, dass Informationen eher für wahr angesehen werden und dass sich die Illusion mühelosen Fortschreitens einstellt1. Dadurch rutschen mögliche Entwicklungen an den Rand der Aufmerksamkeit. Würde man geprimte Mitarbeiter fragen, welche Risiken dem Projekt im aktuellen Zeitpunkt innewohnen, würden sie teilweise offensichtliche Risiken übersehen. Treten diese Risiken dann ein, kommen sie für die geprimten Mitarbeiter völlig überraschend.

Das kann insbesondere in Entwicklungsprojekten fatal sein, die durch agiles Projektmanagement geführt wurden. Da der Begriff „Agiles PM“ momentan in den Munden aller Projektverantwortlichen ist, werden diese dadurch geprimt und messen dem Begriff mehr Bedeutung zu als richtig wäre. Die Software, die sie auf diese Weise entwicklen, könnte nicht den Geschmack der Anwender treffen, auch wenn sich die Entwickler gegenseitig versicherten, dass sie auf gutem Wege seien. Wenn die Endanwender nach der Einführung Reklamationen und Verbesserungswünsche haben, werde diese von den Entwicklern kaum mehr wahrgenommen, weil sie sich eventuell bereits in einem neuen Projekt befinden.

Es lohnt sich also, den Vorgang des Primings genauer unter die Lupe zu nehmen! Es handelt sich um einen ganzen Komplex von Wahrnehmungstechniken. Dörners Überbewertung des aktuellen Motivs2 hat ebenso damit zu tun wie die Interventionstechnik des Reframings3 oder das Abilene-Paradoxon4. Ja sogar Reasons Frequency Gambling kann unter Priming subsummiert werden5.

Können Sie mir sagen, warum sich diejenigen, die an Führung und Projektmanagement interessiert sind, in ihre Überlegungen nicht vermehrt Kognitionsfragen einfliessen lassen?

1Kahnemann, D. Schnelles Denken – langsames Denken. eBook aus dem Siedler Verlag. München 2011. S. 76
2Dörner, D. Die Logik des Misslingesn. Rowohlt Verlag. Hamburg bei Reinbek 1994. S. 100
3http://de.wikipedia.org/wiki/Reframing
4http://de.wikipedia.org/wiki/Abilene-Paradox
5Addor, P. Menschen sind kontextspezifische Mustererkenner. Dieser Blog, August 2012  und
Addor, P. Wie ändert man Weltanschauungen? Dieser Blog, August 2010. 

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