Am Samstag musste ich, zusammen mit vier weiteren Leitern, gegen 40 Jugendliche aus allen Herren Länder in Empfang nehmen und war verantwortlich, dass alle ihren Flug nach hause antreten konnten. Die einen flogen bereits um 10 Uhr vormittags, andere am Nachmittag, wieder andere erst um 21 Uhr und drei sogar erst am Sonntag früh. Es war also eine projektartige Übung, die eine entsprechende Planung benötigte. Vorgesehen war, dass die Jugendlichen direkt nach Ankunft entsprechend ihren Check-in-Anforderungen in drei Gruppen aufgeteilt werden. Nachdem alle komplett eingecheckt waren, wollte man sich gemäss Plan bei der Gepäckaufbewahrung wieder treffen. Als der Bus jedoch eintraf wurden wir informiert, dass für die Jugendlichen noch ein Lunchpaket bereit stehe, das sie nach dem Check-in abholen sollten. Also entschieden wir, dass wir uns statt bei der Gepäckaufbewahrung wieder beim Bus treffen. Das ist eine unvorhergesehene Planänderung. So etwas kann leicht dazu führen, dass man die Situation als komplex einstuft, weil man viele „Baustellen“ beachten muss. Aber tatsächlich hat das nichts mit Komplexität zu tun. Die Information, dass der ursprünglich geplante Treffpunkt bei der Gepäckaufbewahrung gestrichen wurde und wir uns alle nach neuem Plan wieder zum Bus zurück begeben, erreichte meine Partnerin nicht, die zum Zeitpunkt der Planänderung mit drei Jugendlichen unterwegs war. Sie wartete wie ursprünglich verabredet bei der Gepäckaufbewahrung. Die unvorhergesehene Planänderung führte zu einer leichten Unruhe, was zur Folge hatte, dass ich mich auf die aktuellen Ereignisse konzentrierte und völlig vergass, meine Partnerin zu informieren, dass sie wieder zum Bus zurück kommen soll.
Was war geschehen? Zunächst einmal unterlag ich klar dem Fehler, das aktuelle Motiv überbewertet zu haben. Man konzentriert sich auf die aktuellen Ereignisse und versucht, die Probleme zu lösen, die man hat und nicht diejenigen, die man nicht hat. Dietrich Dörner geht in der Logik des Misslingens oft und gern auf diesem Fehler ein, den man in komplexen Situationen sehr häufig begeht1. Gründe für die Überbewertung der aktuellen Situation sind unter anderem wohl die uns eigene Langsamkeit des Denkens (nicht nur bei Bernern!), die geringe Zahl gleichzeitig zu verarbeitenden Informationen und die beschränkte Zuflusskapazität vom und zum Gedächtnis. Die Überbewertung des aktuellen Motivs ist ein wissensbasierter Fehler. In der oben beschriebenen Situation war ich aber keineswegs nur auf der wissensbasierten Ebene. Viel lief auch auf der fähigkeitsbasierten Ebene ab. Siehe dazu den Blog Eintrag Wo kann in Projekten und Unternehmen etwas schief gehen? Reason berichtet von Interferenzfehler auf der fähigkeitsbasierten Ebene2. Zwei gleichzeitig aktive Pläne können sich bei der Kontrolle über die Handlungen in die Quere kommen. Wird ein Plan überarbeitet oder verändert, dann übernimmt der neue Plan sofort die Kontrolle über die Effektoren und kippt den alten Plan aus der Handlungssequenz, obwohl dieser in räumlich oder zeitlich abgegrenzten Teilen des Projekts noch aktiv sein kann. Ein anderer Fehler, der in solchen Situationen auftritt, nennt sich Cue-dependent forgetting. Er beruht auf dem Fehlen eines effektiven Abrufreizes und ist damit nahe verwandt mit der Übergewichtung des aktuellen Motivs: es gibt keine Abrufreize für Probleme, die man zwar gespeichert hat, aber die im Hier und Jetzt keine Rolle spielen. Es ist also kein wirkliches Vergessen, sondern lediglich eine Zugriffsstörung3.
Was können wir dagegen tun? Es gibt sicher viele schöne Tracking-Software, die einem an solche verschütteten Informationen mit Bells and Whistles erinnert. Aber wer hat schon Zeit sich hinzusetzen und diese Systeme zu füttern. Die Anzahl der Reporting Systeme, die ein Projektmanager füttern muss, nimmt ja ständig zu, ohne effektiv zur Verbesserung der Kosten- und Termintreue beizutragen.
1Dietrich Dörner. Die Logik des Misslingens – strategisches Denken in komplexen Situationen. Rowohl Taschenbuch. Reinbek bei Hamburg 1992.
2James Reason. Human Error. Cambridge University Press. 1990 and 2007
3Tulving, E. (1974). Cue-dependent forgetting. American Scientist, 62, 74-82
Einen guten Überblick geben Dominika Posor, Sarah Wennemer, Uta Kirschner von der Universität Münster in Gedächtnis ???: förderliche Lernbedingungen und Theorien des Vergessens