Ich möchte nochmals auf die gestrige Geschichte zurück kommen, weil sie in Projekten wichtig ist. Es handelt sich nämlich auch wieder um so eine Mode, die alle Beteiligten – sehr zu ihrem Nachteil – gemeinsam generieren. Jeder meint, der andere sei schuld, aber tatsächlich hat jeder zu gleichen Teilen Schuld an der Misere. Es ist wie im Bierspiel, wo alle dem jeweils anderen oder externen Faktoren die Schuld geben. Hier meint der Kunde, der Lieferant schlampe, ist aber nicht bereit, mehr zu bezahlen. Das Projektmanagement des Herstellers nervt sich über den lausigen Support des Competence Centers (Entwicklung und/oder Produktemanagement), ist aber nicht bereit, das Projekt zu stoppen, wenn nicht mehr Expertenwissen zur Verfügung steht. Das Competence Center klagt darüber, dass das Management zuwenig Ressourcen bereit stellt, ist aber nicht bereit, den Support von zusätzlichen Projekten abzusagen. Das Management schliesslich schimpft auf die Projektleitung, die das Projekt dermassen schlecht abwickelt, dass die Kunden Penaltyforderungen stellen oder gar davon laufen, ist aber nicht bereit, in zusätzliche Ressourcen zu investieren.
Diese Situation wird klarer, wenn wir sie in einem Diagramm darstellen. Sie können das Diagramm vergrössern, indem Sie darauf klicken.
Starten Sie im Kreis B1 bei der Anzahl Migrations- und Integrationsprojekten, die ein Konzern weltweit durchführt. Je mehr das sind, desto mehr kommt der Produktmanager unter Druck, desto weniger Wissen ist also in den einzelnen Projekten verfügbar. Das Projekt kommt in’s Stocken, weil die offenen Fragen nicht schnell genug beantwortet werden können. Der Kunde ist unzufrieden. Die Marktnachfrage nach Produkten dieses Konzerns sinkt, die Anzahl Projekte geht zurück (und damit auch der Erfolg dieses Konzerns). Hier treffen wir wieder eine alte Bekannte, nämlich die Verzögerung. Zwischen der Unzufriedenheit einzelner Kunden und dem Rückgang des Erfolgs ist eine grosse zeitliche Lücke. Wenn das Management den kriechenden Geschäftsgang jedoch wahrnimmt, ist es meistens schon zu spät, um Gegenmassnahmen zu treffen.
Gehen Sie jetzt in den Kreis B2: Jeder Kunde hat eine gewisse Schwelle, ab der er ernstlich böse wird. Dann muss der Hersteller Penalties bezahlen. Spätestens dann stellt das Management fest, dass eigentlich in zusätzliche Expertise investiert werden müsste. Tut es dies dann auch, dann kann das verfügbare Wissen erhöht werden und die Projekte laufen weit erfolgreicher ab. Das Erreichen der angestrebten Expertenkapazität verzögert sich wieder einmal beträchtlich gegenüber dem Zeitpunkt der Investition. Das ist der Grund, weshalb solche Managementinterventionen meist zu spät greifen. Das Management übersieht die eingebauten Verzögerungen.
Der Kreis R1 generiert einfach neue Projekte. Indem der Konzern interessante Produkte anbietet, kann er sie in Migrations- und Integrationsprojekten ausrollen. Je mehr er das tut, desto bekannter werden die Produkte und desto grösser die Nachfrage in Form von RFQs.
Dieses Muster heisst Growth and Underinvestment. Peter Senge hat es 1990 in seinem Buch Die Fünfte Disziplin zusammen mit neun anderen sogenannten Archetypen beschrieben1.
In Growth and Underinvestment nimmt die Variable, an derer Stelle die Anzahl Migrations- und Integrationsprojekte steht, zunächst zu, flacht dann ab und kollabiert danach mehr oder weniger schnell. Dieses Schicksal ereilt jeden Bestand, der anfangs erfreulich wächst, wenn nicht ganz von Anfang an und dann immer parallel zum Wachstum in Kapazitäten investiert wird. Das ist der einzige Hebel, den Sie in diesen Zusammenhängen in der Hand haben. Nutzen Sie ihn!
1Peter Senge. Die Fünfte Disziplin – Kunst und Praxis der lebenden Organisation. Klett-Cotta. Stuttgart 1997