Der meistgelesene Artikel meines Blogs ist Komplexitätbegriff auf das Individuum bezogen. Das deutet darauf hin, dass es vielen Menschen ein Bedürfnis ist, mit Komplexität umgehen zu können. Dabei versteht zwar jeder etwas anderes unter Komplexität, aber allen dämmert es wohl, dass wir uns in einer ernsthaften Bedrouille befinden. Musik
Projekte sind heute global und können Auswirkungen haben, die sich auch lange nach Projektende noch manifestieren. Wenn z.B. ein europäisches Land Projekte lanciert, welche eine stärkere Besteuerung der hohen Einkünfte und die Senkung des Pensionierungsalters vorsehen, dann hat das Auswirkungen auf das sonst schon instabile europäische Wirtschaftssystem und kann lange nach dem Amtsende des Präsidenten, der die Projekte in Auftrag gab, zu unvorhergesehenen Entwicklungen führen, die meistens katastrophal und selten positiv sind. Die Abwanderung der hohen Einkommen, der Abfluss der Geldmittel in die ärmeren Regionen und die Altersarmut können sich gegenseitig nach nichtlinearen Gesetzmässigkeiten beeinflussen. Mnsik.
Der Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt, Wolf Singer, sagt:
Wir sind unfähig, nichtlineare Phänomene zu erfassen. Das klingt zwar abstrakt, erklärt sich aber aus der Evolution: Im Kleinen, und nur darauf ist unser Gehirn eingestellt und nur daran ist es angepasst, verhält sich die Welt linear. Diese Unfähigkeit ist auch kein Wunder, denn nichtlineare Vorgänge sind nicht vorhersagbar, das Hirn als prädiktives System wäre also überfordert1
Das ist also der Grund unseres Missbehagens, wenn uns die Komplexität eines Projekts persönlich plagt. Unser Gehirn ist gar nicht fähig, globale Projekte mit langfristigen Auswirkungen richtig zu planen und durchzuführen. Es gibt jedoch Hilfsmittel und „Krücken“, die uns helfen, nichtlineare Phänomene zu erfassen. In den meisten Fällen handelt es sich um Simulationstools. Der Einsatz solcher Tools geht aber nicht gerade mit kognitiver Leichtigkeit einher, d.h. sie erfordern eine verstandesbezogene Anstrengung. Wir sind wahre Meister, wenn es darum geht, diese zu verhindern. Unsere Intuition schaukelt uns immer vor, dass die von ihr gefundenen Lösungen genügen. Zusätzlich gibt es heute mehr Experten denn je, die uns glauben machen wollen, dass es nichts besseres gebe als die Intuition, um mit Komplexität umzugehen. Msink.
Hier ein kleines Laborexperiment: eine Flasche Wein kostet 10.50 Euro. In diesem Preis ist natürlich alles inbegriffen, Wein und Flaschenglas. Man weiss, dass der Wein 10 Euro mehr kostet als das Glas. Beantworten Sie schnell und intuitiv die Frage, wieviel das Glas kostet.
Die meisten Menschen, die die Frage nicht kennen, beantworten sie intuitiv falsch. Das wäre auch kein Problem, aber es kommt ihnen nicht in den Sinn, ihr Resultat kurz zu überprüfen, indem sie zurück rechnen. Die Intuition führt mühelos zu einer Lösung. Zurück zu rechnen wäre aber ein kognitiver Aufwand, den die unbewusste „Denkmaschine mit allen Mitteln zu verhindern versucht. Misnk.
Der bekannt Psychologe Daniel Kahneman präsentiert in seinem neuen Buch „Schnelles Denken – Langsames Denken“ ein paar verblüffende Muster kognitiver Leichtigkeit2. Wann haben Sie zuletzt gegessen? Was kommt Ihnen beim Wortfragment „uppe“ in den Sinn. Da ich Sie danach gefragt habe, wann Sie zuletzt gegessen haben, werden Sie jetzt vermehrt ans Essen denken und „uppe“ zu „Suppe‘ ergänzen. Hätte ich Sie jedoch zuerst gefragt, ob Sie auch schon Mal auf einen Hügel mit Rundgipfel gestiegen seien, hätten Sie „uppe“ eher durch „Kuppe“ ersetzt. Das finden Sie selbstverständlich? Ist es Ihnen z.B. in einem Projekt immer bewusst, warum Sie die und die Aussage machen, Anweisung geben, Task oder Methode wählen, etc.? Sie glauben, dass das auch nicht nötig ist? Ein Projekt kann ganz verschiedene Verläufe nehmen, je nachdem, was die beeinflussenden Kräfte denken und daraufhin entscheiden.
Welche sibirische Stadt hat mehr Einwohner? Novokusnezk oder Minsk? Novokusnezk hat ungefähr eine halbe Million, während Minsk nur etwas mehr als 300’000 hat, aber Minsk liegt nicht in Sibirien und nicht einmal in Russland. Wenn Sie auf Minsk getippt haben, dann aus zwei Gründen: erstens ist der erste Name schwerer auszusprechen und verlangt von Ihnen eine kognitive Anstrengung und zweitens haben Sie im Verlauf dieses Artikels einige Male Wörter gelesen, die sich wie „Minsk“ buchstabieren. Kahneman erklärt, dass mehrmalige Wiederholung die Erfolgswahrscheinlichkeit erhöht, damit das intuitive Denksystem dem verstandesmässigen System unwahre Aussagen als wahr unterjubeln kann.
Es geht also nicht darum, alternative Projektmethoden zu finden, wie z.B. Agiles Projektmanagement. Auch agile Methoden verhindern nicht, dass wir und damit das Projekt Opfer unseres automatischen und unbewussten Denksystems werden. Es geht vielmehr darum, unseren Verstand einzusetzen, um die intuitiven Wahrnehmungen zu überprüfen und um Werkzeuge zu gebrauchen, die z.B. nichtlineare Phänomene erfassen können. In Projekten und anderen Managementsituationen ist genügend Zeit dafür vorhanden.
Es gibt „tausend“ Mechanismen, die verhindern, dass wir unseren Verstandesapparat einsetzen. Er ist langsam und teuer im Betrieb. Aber ohne unseren Verstand unterscheiden wir uns nicht von andern höheren Säugetiere. Auch eine Kuh hat Intuition und eine automatische schnelle Wahrnehmung. Brauchen wir also unseren Verstand!
1Reinhard Breuer. Hirnleistungen sind „begrenzt und eklektisch“ – Wolf Singer in Heidelberg. SciLogs 26. März 2010
2Daniel Kahneman. Schnelles Denken – Langsames Denken. Siedler ebooks. 2012
Methoden zum Komplexitätsmanagement sind gefragt, das sehe ich auch so. Die Stärken des agilen Projektmanagements liegen aus meiner Sicht darin, die Zusammenarbeit in Teams zu optimieren und damit Effizienz zu gewinnen. Wäre es nicht gut, wenn man beides zusammen bringen würde? Komplexitätsmanagement und agile Methoden?
Agiles PM ist für Entwichlungsprojekte gedacht, wovon ich wenig Ahnung habe. Sie finden vor allem in Redmont und im Silicon Valley statt. Hier in der Schweiz habe ich vor allem mit Integrations- und Migrationsprojekten zu tun und dafür ist agiles PM ungeeignet. Das Timeboxkonzept ist nicht hilfreich und bei der Priorisierung der Tasks im Backlog treten genau die kognitiven Probleme auf, die ich in meinem Beitrag erwähnt habe. Die Kundenzentriertheit ist zwar nett, aber nicht eine Erfindung des agilen PM. Zudem muss sie dringend relativiert werden, denn wenn z.B. ein Atomkraftwerk in die Luft fliegt, leiden auch Nicht-Kunden darunter.
Auch der Teamgedanken ist nicht eine Erfindung des agilen PM. Teamentwicklungsmethoden gab es schon lange vor Ken Beck und Ken Schwaber. Zudem können sich Agile Ansätze bezgl. Teamentwicklung auch kontraproduktiv auswirken. Lies z.B. „The impact of the Abilene Paradox on double-loop learning in an agile team“ von John McAvoy und Tom Butler (http://dl.acm.org/citation.cfm?id=1240477)
„Wäre es nicht gut, wenn man beides zusammen bringen würde? Komplexitätsmanagement und agile Methoden?“ – Die beiden Themenfelder sind ineinander verwoben, d.h. sie sind schon zusammen. Nur, für Komplexitätsmanagement sind Methoden nur eine Nebensache. Für Komplexitätsmanagement brauchen wir in sich konsistente Theorien. So streben wir keine ausgewogene Kombination von Theorie und Praxis an. Wo methodenbasiertes Vorgehen erforderlich ist, behandeln wir Methoden und wo theroriebasiertes Vorgehen erforderlich ist, reden wir über Theorien. (Mehr dazu
http://www.bluerocks.de/seminare/agiles-projektmanagement-pmi.html ).
Der Antwort von Peter stimme ich zu, mit der Ausnahme „Hier in der Schweiz habe ich vor allem mit Integrations- und Migrationsprojekten zu tun und dafür ist agiles PM ungeeignet.“. Wir wenden den agilen Ansatz auch in solchen von Peter erwähnten Projekten an.
Da bin ich aber mal gespannt. Kannst Du mir bitte sagen, was DU (persönlich, mit Deinen Worten) unter agilem PM verstehst und wie Du das in Migrations- und Integrationsprojekten anwenden willst?