Quantitative Modelle sind Mikroskope

Am 28. Juni hat Oliver M in seinem Kommentar zu meinem Blogbeitrag Schulleiter brüten Dorfbürgermeister aus gemeint, dass eine Simulation nicht besser werden könne, als wenn sich ihr Autor selber zu einem Gedanken durchgerungen hätte. Dazu ist zu bemerken, dass es gerade das Ziel der Simulation ist, diesen Gedanke zu provozieren. Es ging in meinem Beitrag bestimmt nicht um Simulationen per se. Ich gebe Oliver M recht, dass in einem quantitativen Modell nicht mehr steckt, als die Gedanken der Autoren. Es ging ja vielmehr um systemisches Denken, das unseren Entscheidungsträgern allzu oft fremd ist und sich grundsätzlich vom klassischen linearen und alles-ist-machbar-Denken unterscheidet, an das wir sonst so gewohnt sind.

Beispielsweise sind die wenigsten Menschen fähig, auch nur zwischen Beständen und Raten zu unterscheiden und machen ein heilloses Durcheinander, wenn sie darüber reden müssen. Günther Ossimitz hat einmal 154 BWL-Studenten die Anzahl Eintritte und Austritte eines Hotels an 10 aufeinanderfolgenden Tagen vorgelegt und gefragt, wann am meisten Gäste im Hotel waren. Weniger als die Hälfte der Studenten konnten die Frage beantworten. Die Studenten hätten besser eine Münze geworfen, als nachgedacht….1 Überlegen Sie sich einmal, wie sich der Inhalt einer Badewanne verhält, wenn durch den Hahn eine bestimmte Menge Wasser pro Minute hinein und aus dem Abfluss eine andere Menge hinaus fliessen2.

Ein quantitatives Modell ist die Übersetzung der mentalen Modelle seiner Autoren. Damit wird es möglich, über die Welt zu sprechen. Solange man nur diskutiert, redet jeder am anderen vorbei, weil alle andere Modelle im Kopf haben. Offenbar sieht Oliver M die Welt ganz anders als ich. Würden wir beide ein formales Modell bauen, dann könnte das dazu beitragen, dass wir uns besser verstehen.

Ein quantitatives Modell hat auch die Funktion eines Mikroskops, mit dem wir die dynamische Entwicklung eines Systems studieren. Meistens weiss man im voraus, was man im Mikroskop sehen wird, aber man will ein bestimmtes Detail genauer beobachten3.

Quantitative simulationsfähige Modelle leisten einen mächtigen Beitrag zum Verständnis sozialer Systeme und zum Entdecken von Neben- und Fernwirkungen.

1Ossimitz, G. Staatsschulden vs. Nettodefizit – Bestände vs. Flüsse – für die Schule oder für alle? Nach 2000.  Zitiert mit http://www.webcitation.org/5ebLZMC7G

2Booth Sweeney, L. und Sterman, J. D. Bathtub Dynamics: Initial Results of a Systems Thinking Inventory. In: System Dynamics Review 2000, S. 275. Zitiert mit http://www.webcitation.org/5ec9YWtKf

3Addor, P. Projektdynamik – Komplexität im Alltag. S. 305. Reinhold Liebig Verlag. Frauenfeld 2010. ISBN 978-3-9523545-6-8

4 Antworten auf „Quantitative Modelle sind Mikroskope“

  1. Unter dem Gesichtspunkt, dass über ein quantitatives Modell eine gemeinsame Diskussionsbasis gefunden wird, bin ich mit Ihnen einverstanden. Meine Argumentation ist zu kurz gefasst und auf den Beweis einer These ausgerichtet. Ein Modell kann so besser werden – oder hat zumindest das Potential – als der Grundgedanke des Autoren.

    Vermutlich ist es dann wohl eher das Problem, dass einmal erstellte Modelle nicht mehr hinterfragt werden weil sie nicht durchdrungen werden oder von Experten erstellt wurden.

    1. Peter, ich muss Dir Recht geben. Die wenigsten Menschen kennen den Unterschied zwischen Bestands- und Flussgrößen. Oder genauer ausgedrückt. Vielleicht kennen Sie ihn, denn am Beispiel einer Badewanne ist dies relativ einfach nachzuvollziehen. Es hapert dann eher am praktischen Anwenden. Die Testfragen von Ossimitz belegen das sehr schön.

      Sehr häufig reichen bereits ganz kleine quantitative Modelle aus, um für Phänomene wie Nichtlinearitäten, die aus Rückkopplungen entstehen, zu sensibilisieren. Ich führe dann sehr gerne das Papierstapelproblem an: Wenn man ein DIN A4 Blatt mit einer Dicke von 0,1 mm 48 faltet, erhält man einen Stapel von 28 Mio km. Wahrscheinlich ist dies wohl auch der Grund, weshalb Niemand der Wirtschaftsweisen erkennt, das die Realwirtschaft unter dem Zinsstress, der von der Finanzwirtschaft ausgeht, in „die Knie geht“. Die Auswirkungen strahlen mittlerweile bis auf die Staaten aus, da die zu zahlenden Zinsen setig größer werden.

      Grundsätzlich messe ich den entstandenen Modellen nicht so großen Wert bei. Viel wichtiger ist das Erstellen des Modells, denn bei der Erstellung eines Modells sind die Teilnehmer gezwungen, sich auf eine gemeinsame Syntax und Semantik zu einigen. Das ist die Basis für eine fruchtbare Diskussion. Das Modell spiegelt dann am Ende ähnlich eines Bildes die Diskussion wieder. Ganz wichtig bleibt noch zu erwähnen, dass ein Modell niemals die Unsicherheit in die Zukunft negieren darf und das deshalb jedes Modell stetig validiert werden muss.

      Denkerische Grüße,
      Conny Dethloff

  2. Vielen Dank für die Diskussionsbeiträge. Wir sehen das alle ähnlich. Auf eines möchte ich aber im Zusammenhang mit Modellen noch hinweisen: man diskriminiere Modelle nicht wegen der Tatsache, dass sie ja nur Vereinfachungen oder „Zurechtbiegung“ der Realität seien, denn eine andere Möglichkeit, als die Realität in Form von Modellen wahrzunehmen haben wir gar nicht!

    Unsere fünf Sinne stellen aus dem, was sie wahrnehmen, ein Modell her und stellen dieses dem Bewusstsein zur Verfügung. Beispielsweise ist Farbensehen bloss ein Modell elektromagnetischer Strahlung zwischen 400 und 800 nm. Daher sind wir in guter Gesellschaft (mit der Natur), wenn wir auch intellektuell modellieren….

    1. Hallo Peter,

      das sehe ich genauso. Es ist immer noch besser zu modellieren, als es nicht zu tun. Deshalb tue ich es auch mit voller Inbrunst. Man muss sich eben nur der bestehenden Tücken bewusst sein, um es dann letztendlich auch effektiv und effizient für sich zu nutzen.

      Grüße,
      Conny

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