Was Gerhard Roth über Entscheidungen sagt, bezieht sich auf individuelles Entscheiden. Das ist jedoch gerade im wirtschaftlichen Umfeld eher selten. Management- und Projektteams fällen Entscheidungen kollektiv. Sogar im privaten Umfeld – etwa wenn wir eine neue Wohnung oder einen neuen Job suchen – fällen wir Entscheidungen selten im stillen Kämmerchen.
Was ist der entscheidende Unterschied zwischen individuellen und Gruppenentscheidungen? Wir haben verstanden, dass gute individuelle Entscheidungen viel mit Intuition zu tun haben. Gibt es auch eine kollektive Intuition? Was könnte das sein?
Über Gruppenentscheidungen ist viel geschrieben worden. Wer dazu gefragt wird, stellt Konsens in den Vordergrund und versteht darunter meist Abwesenheit von Einsprachen. Aber genügt das? Ist Konsens stets anzustreben?
Das Abilene-Paradox von Jerry B. Harvey ist ein typischer Fall eines schädlichen Gruppenkonsens‘. An einem heissen Nachmittag schlug ein Gruppenmitglied (aus Langeweile? zum Spass?) vor, man könnte in das über 85 Km entfernte Städtchen Abilene fahren, um dort zu essen. Alle fanden das eine gute Idee und unterstrichen diese Meinung mit einer persönlichen Zustimmung. Nach vier Stunden waren die Leute wieder zu Hause und gaben nun zu, dass es eine Schnappsidee war, nach Abilene zu fahren, um dort schlecht zu essen.
In der Gruppe herrschte Konsens, etwas zu tun, das keines der Gruppenmitglieder wollte. Irving Janis versteht unter Groupthink einen
Denkmodus, den Personen verwenden, wenn das Streben nach Einmütigkeit in einer kohäsiven Gruppe derart dominant wird, dass es dahin tendiert, die realistische Abschätzung von Handlungsalternativen außer Kraft zu setzen
Abilene-Paradox und Groupthink sind umso wahrscheinlicher, desto höher die Gruppenkohäsion ist, wie z.B. in Projektteams, die sich agilem Projektmanagement verschrieben haben1. Scrum Teams leiden oft unter dem Abilene-Paradox2.
Gruppenentscheidungen sind aber nicht nur Groupthink unterworfen. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts war das Condorcet-Paradox bekannt. Die Etablierung individueller Präferenzen in einer Gruppenpräferenz ist problembehaftet. Nehmen wir an, die Gruppe bestehe aus drei Personen, die als Gruppe drei Alternativen gewichten muss. Das können z.B. drei Projekttasks a, b und c sein, die notgedrungen nur seriell, also nacheinander durchgeführt werden können. Das Projektteam muss entscheiden, in welcher Reihenfolge die drei Tasks ausgeführt werden sollen.
- Person 1 möchte a vor b und b vor c durchführen, in Symbolen: a < b < c
- Person 2 bevorzugt die Reihenfolge b < c < a und
- Person 3 findet, dass man die drei Tasks nur in der Reihenfolge c < a < b durchführen dürfe.
Stimmen wir ab! Wer ist für „a vor b“? Zwei sind dafür, einer dagegen, also entscheidet sich die Gruppe für a < b. Wer ist für „b vor c“? Wiederum zwei dafür, einer dagegen. Also ist die Gruppenmeinung b < c. Wer ist für „a vor c“? Nur einer. Wer ist also für „c vor a“? Da sind es auch zwei. Gruppenentscheidung ist also: c < a.
Die Gruppenentscheidung, die durch Mehrheitsbeschluss zustande kam, lautet also:
a < b < c < a, was natürlich ein ausgekochter Blödsinn ist. Sie sagt aus, dass wir den Task a erst starten dürfen, wenn der Task c fertig ist, der aber eindeutig erst gestartet werden darf, nachdem b und vorher a fertig gestellt wurden.
Hier wäre dann ein Stichentscheid des Gruppenvorsitzenden gefragt. Wie er es aber auch wendet, er wird in jedem Fall eine Mehrheit nieder trampeln. Er hätte die Reihenfolge gerade so gut vor der Abstimmung diktatorisch festlegen können!
1951 bewies Kenneth Arrow, dass es im Allgemeinen überhaupt unmöglich ist, aus Individualpräferenzen eine Gruppenpräferenz abzuleiten (wenn diese einigen grundlegenden Voraussetzungen gehorchen soll, die Gruppe aus mehr als zwei Mitgliedern besteht und mehr als zwei Alternativen vorliegen). Das Arrow-Theorem ist meines Erachtens eine der ganz grossen Erkenntnisse, welche uns das 20. Jahrhundert beschieden hat, vergleichbar mit den Arbeiten von Axelrod (Kooperationen) und Gödel (Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit sind unvereinbar).
Man braucht sich also gar keine Mühe zu geben: Gruppenentscheidungen, die die individuellen Wünsche widerspiegeln, sind grundsätzlich unmöglich.
Es sei denn, es herrsche von Anfang an Friede, Freude, Eierkuchen, und alle hätten dieselbe Meinung. Das wäre dann Konsens par excellence. Das würde dann so ablaufen:
Jedes Gruppenmitglied entscheidet die anstehende Frage individuell nach der Methode des „aufgeschobenen intuitiven Entscheidens“. Dann trifft sich die Gruppe und fragt die individuellen Entscheide ab. Stimmen alle überein, ist man fertig und kann den einstimmigen Gruppenentscheid umsetzen. Gibt es nur eine Abweichung, dann ist man in der Arrow-Situation. Ein Gruppenentscheid ist dann nicht möglich.
Man hofft nun, durch Argumentieren, die Meinungen zusammen führen zu können. Dadurch gewinnt die Meinung des charismatischten informellen Führers innerhalb der Gruppe. Wer seine Argumente am überzeugendsten, verständlichsten und authentischsten rüber bringen kann, dem folgen alle anderen Gruppenmitglieder, die dabei dem Attributionsfehler von Lee Ross erliegen.
Was ist der Unterschied zwischen einem charismatischen informellen Führer und einem Diktator? Der eine hat Talente, für die er nichts kann. Der andere hat sich talentlos genommen, was dem ersten automatisch in den Schoss fällt. Was denn besser sei….
1 J. McAvoy & T. Butler. The impact of the Abilene Paradox on double-loop learning in an agile team. In: Information and Software Technology, Volume 49, Issue 6, June 2007, Pages 552-563
2 oose.team. Scrum Group Think. Jahr unbekannt, 2010 oder 2011
Hallo Peter,
sehr interessante Gedanken, die zum Weiterdenken anregen. Ein Frage habe ich zu Deinem letzten Statement bzgl. informellen Führer vs. Diktator. Meinst Du mit „informellen Führer“ unter anderem Führungskräfte in Unternehmen? Ich denke schon, dass Führungskräfte etwas für Talente können. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass erstklassige Führungskräfte erstklassige Mitarbeiter, zweitklassige Führungskräfte dann doch eher drittklassige Mitarbeiter haben. So wird die Kluft immer größer. Ein Verdienst einer guten Führungskraft ist, indirekt eine Umgebung zu schaffen, in der sich Mitarbeiter entwickeln können. Aber wie gesagt indirekt, so etwas geht nie „per Knopfdruck“.
Denkerische Grüße,
Conny
Unter einem „informellen Führer“ verstehe ich eine Person, die über genug Charisma und Überzeugungskraft verfügt, um ihre Mitmenschen zu motivieren und mitzureissen, ungeachtet ihrer hierarchischen Stellung. Oft werden Organisationseinheiten von solchen informellen Führer geleitet und weniger von den offiziellen hierarchischen Chefs.