In den letzten paar Wochen habe ich gleich mehrmals die relativ frustrierende Erfahrung machen müssen, dass man Pläne nicht ohne weiteres ändern darf, vor allem, wenn die Änderung nur Details betrifft. Beispielsweise habe ich für einen Verein ein Jahresprogramm zusammen gestellt und dieses kommuniziert. Kurz vor dem Inkrafttreten des Programms habe ich eine kleine Änderung vorgenommen und zweimal mündlich darauf aufmerksam gemacht. Aber nein, mindestens die Hälfte der Mitglieder haben die Änderung nicht zur Kenntnis genommen und stellten sich auf den alten Plan ein, was natürlich konfliktträchtig ist, wenn die beiden Planvarianten kollidieren. Planänderungen müssen mit Pauken und Trompeten kommuniziert werden. Sie müssen jeden Betroffenen am Ärmel nehmen, ihm in die Augen sehen und sich bestätigen lassen, dass er die Änderung zur Kenntnis genommen habe. Am besten lassen Sie ihn mit dem eigenen Blut unterschreiben. Aber wer will schon so ein Tamtam machen, wenn die Änderung bloss ein Detail betrifft?
Beim Durchlesen meines Eintrags Glauben Sie, Vergessen sei bloss eine Charakterfrage? vom 12. August ist mir ein interessanter Zusammenhang zwischen dem wissensbasierten Verhaltensmuster Überbewertung des aktuellen Motivs und Verzögerungen aufgefallen, die wir verschiedentlich bereits untersucht haben. Ich stelle mir ein Projektsystem stets als Oberfläche eines Teiches vor. Wo immer im Projekt ein Stakeholder – Projektmanager, Projektmitarbeiter, Linie, Marketing, Ver- und Einkauf, Kunde, Lieferant, etc. – handelt, sendet sein Tun konzentrische Wellen durch das Projekt. Sie lösen bei denen, die sie erreichen, wieder Entscheidungen und Handlungen aus, die sich wellenförmig durch das Projektsystem fortsetzen. Erreichen uns viele dieser Wirkungswellen, empfinden wir das Projekt als komplex, chaotisch, turbulent oder fluktuativ, was zur Folge hat, dass wir selbst zu strampeln anfangen und so noch viel mehr Wellen erzeugen. Dörner nennt den Mach-mal-vielleicht-hilft-das-ja-Ansatz Reparaturdienstverhalten und die Konzentration auf viele Problemfragmente Projektemacherei1.
Ein einmal publizierter Plan „durchtränkt“ das Projekt langsam. Es braucht einige Zeit, bis er im Bewusstsein aller ist. Wenn Sie nur ein Detail ändern, dann braucht es seine Zeit, bis dieses Detail durch das Projektsystem propagiert ist, auch wenn Sie die Änderung mehrmals erwähnt haben. Die Leute vergessen es sofort wieder, wenn sie es überhaupt realisiert haben. Denken Sie an Reasons Aufmerksamkeitsfehler auf der fähigkeitsbasierten Ebene oder an den Spurenzerfall im Langzeitgedächtnis. In der Zeit der Propagation einer Planänderung sind gewissermassen beide Planvarianten aktiv. Das müssen Sie als Projektmanager stets bedenken und alle abholen. Wehe, Sie verlassen sich darauf, dass alle Stakeholder die Änderung realisiert haben! Ändern Sie nie einen Plan ohne Pauken und Trompeten und einem mittelkalibrigen Feuerwerk!
Wahrnehmungen erleiden genauso Verzögerung wie die Körner, die von den Tauben aufgepickt werden oder die Paletten im Brennofen. Siehe Verzögerungen erster und höherer Ordnung und Pipeline-Verzögerungen. Angenommen, Sie haben eine Planvariante zu 100% in Ihrem Gedächtnis. Nun wird Ihnen eine Änderung kommuniziert. Das führt nur dazu, dass die ursprüngliche Planvariante nur noch zu vielleicht 90% im Gedächtnis ist, während die neue Variante die restlichen 10% ausfüllt. Wird Ihnen die Änderung ein zweites Mal kommuniziert, gilt die alte Variante für Sie noch zu 80% und die neue zu 20%, usw. Natürlich ist das bloss ein Modell. Entweder haben Sie geschnallt, dass der Plan abgeändert wurde oder Sie haben es nicht mitbekommen. Um jedoch die Tatsache zu verstehen, dass eine Änderung nur nach und nach ins Bewusstsein der Leute dringt, können wir uns dem Modell bedienen, dass der eine Gedächtnisinhalte nach und nach durch einen neueren verdrängt wird. Das könnte man dann so darstellen:
Was passiert nun, wenn die Änderung nur einmal, wenn auch deutlich, kommuniziert wird? Der aktuelle Gedächtnisinhalt wird sich wie folgt entwickeln:
Zwar nehmen wir eine Veränderung wahr, aber nach mehr oder weniger kurzer Zeit haben wir sie wieder vergessen. Das ist doch genau die Situation, die wir von den Körner und den Tauben her kennen. Interessanterweise verhalten sich Prozessverzögerungen erster Ordnung und Wahrnehmungsverzögerungen erster Ordnung genau gleich, obwohl sie eine ganz andere Struktur haben. Wird die Veränderung konstant gemeldet, dann passt sich die Wahrnehmung langsam der kommunizierten Realität an:
Die rote Kurve zeigt den Plan. Er erfährt eine Änderung in der Woche 5. Die blaue Kurve zeigt die aktuelle Wahrnehmung. Sie gleicht sich langsam der gemeldeten Tatsache an.
1Dietrich Dörner. Die Logik des Misslingens. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Reinbek bei Hamburg 1992 (2002)