Beim Nachdenken über Intuition kommt immer wieder der Begriff Instinkt in’s Gespräch. Wo liegt der Unterschied?
Instinkt ist ein automatisches Ablaufen einer Reaktion aufgrund eines Schlüsselreizes. Instinkt wurde weitgehend synonym mit „Trieb“ verwendet. Triebe sind vorwiegend im Zusammenhang mit der Befriedigung existenieller Bedürfnisse aktiv, so z.B. im Zusammenhang mit Sex. Das Kopfdrehen beim Erblicken eines möglichen Sexpartners, dessen Äusseres gewisse Schlüsselreize auslöst, ist ein typisch instinktives Verhalten.
Instinkte wurden in den 1950er Jahren von Konrad Lorenz intensiv erforscht. Nach ihm geriet der Begriff ein wenig aus der Mode. Heute vermeiden Psychologie und Verhaltensbiologie weitgehend die Bezeichnung Instinkt und ersetzen ihn zum Beispiel durch angeborenes Verhalten1.
Über solchen physiologisch „fest verdrahteten“ Automatismen gibt es beim Menschen zwei komplementäre Systeme, die Hand in Hand funktionieren. Das System 1 kann sehr schnell Muster erkennen und komplexe Zusammenhänge erfassen. Es unterhält im assoziativen Gedächtnis kohärente Vorstellungen der wahrgenommenen Welt. Das System 2 verarbeitet die Eindrücke, Gefühle und Neigungen von System 1 zu Überzeugungen, Einstellungen und Absichten und ist zuständig für gezielte Gedächtnissuche, komplexe Berechnungen, Planungen und Vergleichen2.
System 1 verbindet ein Gefühl kognitiver Leichtigkeit mit Wahrheitsillusionen, angenehmen Gefühlen und verminderter Vigilanz und ist immer auf der Suche nach Ursachen. Die Aktivität von System 2 ist langsam, mühsam und manchmal fast mit physischem Schmerz verbunden. Daher vermeiden wir wenn immer möglich den Gebrauch von System 2. Aber keines der beiden Systeme kann das andere in seiner Funktion ersetzen. Hingegen ist wahrscheinlich nur System 1 lebensnotwendig.
System 1 ist der Sitz der Intuition, wenn es nicht gar damit gleichgesetzt werden kann. System 2 könnten wir mit dem Verstand identifizieren.
Es gibt jedoch keine strikten Grenzen zwischen Instinkt und den beiden Systemen. Dave Pollard setzt Instinkt und Intuition sogar gleich!3 Während Instinkte nicht reguliert und nur sehr schwer zu unterdrücken sind, arbeiten System 1 und System 2 Hand in Hand und beeinflussen einander. Allerdings ist System 2 sehr faul und lässt sich gerne von System 1 die Arbeit abnehmen. Dazu kommt, dass System 1 dem System 2 immer vorgaukelt, dass es bereits „vernünftige“ Lösungen gefunden habe und dass System 2 weiterhin ausruhen könne und nicht aktiv zu werden brauche.
Die Intuition ist also lebensnotwendig und zentral. Sie vermag Wahrnehmungen sehr schnell mit archetypischen, kulturellen und persönlichen Gedächtnisinhalten zu assoziieren, zu denen der Verstand schon aufgrund seiner Langsamkeit nie vorzudringen vermag. Aber die Intuition schliesst vorschnell und erfindet „Tatsachen“, wenn sie fehlen. Aus der Intuition schöpfen wir Geschichten und Märchen über die Kohärenz von Welten, die es wahrscheinlich gar nicht gibt.
1Wikipedia, Instinkt, letzte Bearbeitung Aug. 2012
2Kahneman, D. Schnelles Denken – Langsames Denken. Siedler ebooks, 2012. Im Abschnitt „Affektheuristik“ des Kapitels 9: „Eine leichtere Frage beantworten“.
3Pollard, D. Intuition, Chemistry and Heart-Sense. Dezember 2009
Der Instinkt ist angeboren, seine Anliegen beruhen also auf Vorgeburtlichem, die der Intuition hingegen auf erlebten, also nachgeburtlichen, Erfahrungen. Sie kann, meines Erachtens, mit dem Instinkt also nicht gleichzusetzen sein. Dass der Instinkt teilweise gleiche Systeme verwendet, um seine Ziele zu erreichen oder die Intuition möglicherweise eines dieser Systeme selbst darstellt, steht für mich in keinerlei Widerspruch mit dieser Aussage, auch wenn es hier sicherlich keine klaren Grenzen gibt.
Das verhält sich so ähnlich, wie mit dem Gefühl, das mit der Intuition überhaupt nichts zu tun hat, wie ich finde, obwohl es sehr oft ebenso mit ihr gleichgesetzt wird. Man weiß, dass Intuition auf Erfahrungen zurückgreift: bei unwichtigen Entscheidungen einfach auf das Vertraute, bei wichtigen wägt sie sorgfältig ab, genau wie der Verstand auch, nur viel mehr Informationen in viel kürzerer Zeit. Das sind also „rationale“ und nicht emotionale Vorgänge, auch wenn sie im Unterbewusstsein operiert. Dort kann sie, nachdem sie eine Entscheidung getroffen hat, diese nicht in Worten dem Bewusstsein mitteilen, sondern nur mit körperlichen Reaktionen und Gefühlen. Das macht das Gefühl noch zu keinem Bestandteil von ihr und einerlei sind sie dadurch schon gar nicht. Ich bin es, der einen Brief schreibt, aber nicht derjenige, der ihn dem Empfänger überbringt. Das ist der Briefträger. Obwohl ich mich bemüht habe, meine Behauptungen nur auf Erkenntnissen der Intuitionsforschung basierend zu treffen, übersehe ich ja vielleicht etwas?
PS: Guter differenzierter Beitrag, danke.
Dieser Kommentar ist für mich der Beste von allen bisher von mir Gelesenen. Er ist gut verständlich.