Kalabrien im November – 2. Teil

Als nächste Station nach Scilla ist Tropea geplant. Tropea ist bekannt für seine länglichen roten süssen Zwiebeln. In Tropea zieht man Zwiebeln! Wenn Sie im Umkreis von 50 Km um Tropea sind und einen gepflegten Acker mit einer exakt gezogenen unbekannten Frucht sehen, dann fragen Sie nicht, was hier kultiviert wird: es sind Zwiebeln! Prinzipiell!

Tropea

Unser BnB ist nicht genau in Tropea, sondern in einem knapp 10 Km entfernten Weiler namens Daffinacello. Es sind bloss ein paar Häuser, Luftlinie einen guten Kilometer vom Meer entfernt. Zum Einkaufen oder um einen kurzen Ausflug zu machen, gehen wir vornehmlich nach Tropea. Das 6000-Seelen-Dorf steht auf einem Sandsteinsockel. Die Fassaden der äussersten Häuser gehen glatt in den senkrecht herabfallenden Fels über, so dass man nicht so ganz weiss, wo ein Haus aufhört und wo der Fels anfängt. Das sieht äusserst eindrücklich aus. Dem Dorf vorgelagert ist wieder eine Klippe, diesmal nicht mit einer Festung, sondern mit einer byzantinischen Wallfahrtskirche, die aber jetzt in den Wintermonaten geschlossen ist. Das ist für Tropea typisch: hier ist fast alles geschlossen, Bars, Restaurants, Geschäfte, sogar Pescherie und einige Nahrungsmittelläden sind geschlossen! Ich weiss nicht, was die Leute dort machen, ob mehrere Monate Ferien oder Winterschlaf.

Tropea steht auf einem Felsen

Oft höre ich das Argument, dass es sich die Bevölkerung hier nicht leisten kann, in Restaurants zu gehen. Tatsächlich ist Kalabrien die ärmste Region Italiens. Das BIP pro Kopf beträgt nur etwa 60 % des EU-Durchschnitts und die Arbeitslosigkeit beläuft sich auf etwa 20 %! Aber sogar in Ligurien sehen wir in Bars oft Männer zusammensitzen (um die wichtigsten Weltprobleme zu erörtern), ohne etwas zu konsumieren. Warum gibt es das hier nicht auch? Zudem macht die kalabrische (oder kalabresische?) Mafia jährlich über 50 Milliarden Umsatz, was hier zigtausend Menschen „zu Gute“ kommt. Auch wenn es bloss 50’000 von 2 Millionen sind: warum tut man hier so, als dass Restaurants nur für (Sommer-)Touristen wären? Sogar Scilla ist nicht so verschlafen wie Tropea! Gut, ich muss zugeben, dass es zwischen den Ortschaften Industriegebiete mit Baumärkten, Autohändlern, Werkzeugläden und Grossverteilern gibt. Auch fand ich ausserhalb des Zentrums ab und zu mal ein geöffnetes Geschäft, das ich in der antiken Altstadt vergebens gesucht hatte. Aber auch in Aussenquartieren dominieren heruntergezogene Rollläden das Strassenbild. Ich denke nicht, dass das mit der Armut zu tun hat. Dann schon eher mit der mässig vorhandenen Geschäftstüchtigkeit der Inhaber. Vor allem in Tropea arbeitet man nur, wenn täglich ein paar Dutzend Badetouristen kommen. Sonst schaut man zu, dass Geld auch ohne zu arbeiten reinkommt: am Strand unten kostet eine Stunde Parken 3 Euro, d.h. Sie bezahlen 72 Euro jeden Tag, nur um Ihr Auto stehen zu lassen! (In den Wintermonaten brauchen Sie wenigstens in den Nachtstunden nichts zu bezahlen, aber wer will dann schon dort parken, wenn ja doch nichts läuft?!).

Capo Vaticano

In Tropea blieben wir 10 Nächte! Ich dachte, wenn wir schon drei bis vier Monate unterwegs sein wollen, dann müssten wir die einzelnen Aufenthalte etwas ausdehen und auch die Umgebungen erkunden. Allerdings ist das Leben auf dem Lande ziemlich langweilig, vor allem, wenn man wegen schlechten Wetters gezwungen ist, in der Wohnung zu bleiben. Und wenn man auch bei schönem Wetter doch keine Bars und Restaurants findet, um z.B. nach einer längeren Wanderung einzukehren, bleibt es langweilig. In den Wintermonaten ist es in den Häusern zudem kühl, da kaum richtige Heizungen vorhanden und die Häuser null isoliert sind. Nicht einmal normale Daunendecken haben sie hier. Wir müssen froh sein, wenn wir drei oder vier dünne Decken finden, die im Bett – übereinander gelegt – halbwegs warm halten. Jedenfalls ist unser Übermut, drei Monate in dieser Kälte zu verbringen, schon jetzt etwas gedämpft und der Wunsch, doch noch paar Monate nach Sri Lanka zu gehen, wird immer konkreter.

Einmal machten wir von Tropea aus einen Ausflug an das Capo Vaticano. Wenn Sie Kalbrien auf der Karte betrachten, dann stellen Sie fest, dass die Zehe des italienischen Fusses eine Art Halux aufweist, eben ein Kap, auf dem sich Tropea befindet und dessen westlichster Punkt dieses besagte Capo Vaticano ist. Das hat nichts mit dem Vatikan zu tun. Vielmehr geht das auf die Zeit der griechischen Besiedlung zurück. Damals gab es hier eine Art Konkurrenz zum Orakel von Delphi. „Capo Vaticinii“ heisst übersetzt „Kap der Prophezeiungen“. Die Menschen hier sprachen noch lange nach der griechischen Zeit, die vom 8. Jahrhundert bis 500 vor Chr. dauerte, Griechisch. Heute ist der kalabrische Dialekt ein stark durch die italienische Sprache beeinflusstes Griechisch, genauer „Griko„.
Ähnlich wie bei den „Tre Croci“ gibt es auch am Capo Vaticano eine Aussichtsplattform. Der Leuchtturm daneben ist abgesperrt, das kleine Restaurant selbstverständlich geschlossen – wie könnte es anders sein?! Von der Plattfom hat man nicht nur eine tolle Aussicht auf das tyrrhenische Meer, sondern auch auf den Strand, der vielleicht 100 Meter weiter unten liegt. Es gibt Anzeichen dafür, dass ein steiler Fussweg zum Strand hinunter führt. Neben dem Strand ist ein Parkplatz zu sehen, der uns auf die Idee brachte, von dort zurück auf die Aussichtsplattform zu laufen.


Doch zunächst mussten wir noch etwas einkaufen und uns einen Aperitif genehmigen. Die nähere Umgebung bestand allerdings ausschliesslich aus (verlassenen) Ferienhäusern und (geschlossenen) Hotels und so fuhren wir weiter in’s Landesinnere, bis wir in das Dorf Ricadi kamen. Das war ja lustig! Der Dorfkern beschränkte sich auf eine 100 Meter lange und recht breite Strasse, entlang der es ein paar Läden (die meisten geschlossen) und eine Farmacia gab sowie zwei Bars, von denen nur eine geöffnet war. Dort fand das eigentliche Dorfleben statt. Daneben steht das Gemeindehaus auf einem grossen verkehrsfreien Platz mit dem Denkmal für die Gefallenen der beiden Weltkriege. Auf dem Platz spielten zahlreiche Kinder. Mir schien, als dass die Barbesitzering förmlich auflebte, als ich unsere Bestellung platzierte. Sie offerierte sogar Nüsschen und Chips zum Bier und Weisswein!


Dann fuhren wir auf den Parkplatz neben dem Strand und starteten unseren Aufstieg zu der Aussichtsplattform. Zunächst mussten wir über den Sandstrand laufen und Klippen umgehen, an die die Brandung heran reichte. Bald stieg der schmale Pfad leicht an. Dann passierten wir ein verschlossenes Tor, an dem „privat“ stand und den Blick auf eine feudale Treppe mit Geländer frei liess, die zu einem Hotel hinaufführt. Für gewöhnliche Leute begann der steile Aufstieg zur Aussichtsplattform ein paar Meter weiter hinten, ohne Treppe und ohne Geländer. Der Pfad ist gesäumt von Feigenkakteen, die jetzt mit langen Stacheln bewaffnet sind. Der Aufstieg ist nicht ungefährlich und erfordert höchste Aufmerksamkeit. Ein Misstritt und Sturz könnte fatal sein. Solche Unterfangen sind immer wie ein grösseres Projekt: man weiss nie, ob man das Ziel erreicht. Es könnte durchaus sein, dass der Weg durch vergangene Regenfälle abgerutsch ist und wir nicht weiter können. Dann müssten wir alles zurück, und hinunter ist wegen erhöhtem Rutschrisiko schwieriger als hinauf. Sollen wir weiter gehen, auf die Gefahr hin, vielleicht kurz vor dem Ziel umkehren zu müssen oder sollen wir das Vorhaben gleich abbrechen, um nur einen kurzen Abstieg in Kauf zu nehmen? Wir hielten durch und erreichten glücklich die Aussichtsplattform.

Vibo Valentina

An einem anderen Tag besuchten wir Vibo Valentia. Das ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Tropea liegt demnach in der Provinz Vibo Valentia. Die Stadt beherbergt 33’000 Einwohner und liegt an einem Hügel, auf dessen Gipfel eine normannische Festung steht. Wir besuchen immer gerne Burgen, Schlösser und Festungen, weniger der oft lokalen Geschichte wegen, mehr um die Aussicht zu geniessen. Hier lohnte es sich sehr, konnte man doch weit in’s Land hinein sehen. Als wir auf der höchsten Schlossmauer standen, überflogen uns drei Kraniche. Ich dachte an Schillers Kraniche des Ibykus, der ja unweit von hier, nämlich in Reggio Calabria, aufgebrochen war. Zwar kann Vibo nicht mit R.C. konkurrenzieren, aber es hat uns dennoch gefallen. V.V., wie Vibo Valentia abgekürzt wird, ist nicht sehr touristisch, denn es liegt nicht direkt am Meer und bietet relativ wenig Sehenswürdigkeiten. Es gibt eine Geschäftsstrasse, die mit meist einstöckigen Flachdach-Häusern gesäumt ist. Mittags assen wir in einem dieser unscheinbaren aber hervorragenden Einheimischenrestaurants, wie sie in solchen Städten üblich sind und wo man „wie bei Muttern“ isst. Ein Paar, das offensichtlich oft dort isst, kam gestaffelt. Zuerst kam die Frau und während sie mit ihrem Mann am Handy verbunden war, bestellte sie, was er wünschte. Sie vermittelte zwischen Kellner und Mann, bevor sie auch ihr Essen bestellte. Vermutlich steckte er im Stau oder wurde noch von einem Kunden aufgehalten. „Young urban people“ gibt’s also auch in Kalabrien.

Pizzo und kalabresische Leckereien

Ein Ort, den man gesehen haben muss, wenn man in Tropea ist, ist Pizzo. Mit seinen knappen 10’000 Einwohner steht das Städtchen auf einem hohen Felsen, auf dessen höchstem Punkt das Castello Murat steht. Joachim Murat war Napoleons Schwager und von 1808 bis 1815 König von Neapel, das Napoleon dem Infanten von Spanien weggenommen hatte. Als der Stern Napoleons im Sinken begriffen war, wechselte Murat die Fronten und schloss sich der antinapoleonischen Partei an. Zur Zeit der Herrschaft der Hundert Tage trat er wieder an die Seite Napoleons. So verwundert es nicht, dass er 1815 zwischen die Mühlsteine der Restauration kam und hingerichtet wurde. Die Exekution fand eben im Schluss von Pizzo statt. Die letzte Gefängniszelle Murats ist im Original erhalten und vom Exekutionsplatz her begehbar.
Durch das Städtchen schlängeln sich viele enge Gässchen mit Boutiquen und Läden. Zentrum ist der Platz neben dem Schloss. Dort hat es viele Restaurants und Bars, die mehrheitlich auch im November geöffnet sind. Pizzo ist bekannt für das Tartufo Calabrese oder Tartufo di Pizzo. Es handelt sich um eine grosse Kugel Eis, die mit Schockoladensauce gefüllt und mit Kakaopulver bestreut ist. Tartufo Calabrese hat nichts mit dem Trüffelpilz zu tun, sondern mit den Trüffelpralinen, denen sie nachempfunden sein sollen. Wir assen in einem Restaurant auf dem Platz an der Sonne zu Mittag und wechselten dann in eine benachbarte Pasticceria, wo wir ein Tartufo di Pizzo probierten. Na ja, es ist in der Tat eine Schleckerei, aber mir ist ein kleines Baba o Rum doch fast lieber.

Eine andere kalabrische Spezialität ist ‚Nduja. Sie sagen, dass es sich dabei um eine scharfe Salami handle. Aber ich sehe keine Ähnlichkeit mit einer Salami. Es ist viel mehr eine Streichwurst, die aus 2 kg Hackfleisch und 1 Kg Peperoncino hergestellt, leicht gräucht und drei bis sechs Monate gereift (ich verwende den Begriff „Peperoncino“, andere ziehen den Begriff „Chili“ vor, beides ist dasselbe). Die kalabresischen Peperoncino-Sorten heissen abwechslungsweise „Casalisi”, “Barrittuni”, “Trippizza”, “Nas’i cani” oder “Rotondo” und ihre Schärfe wird mal mit 15’000 und mal mit 150’000 Scoville angegeben (Habanero hat etwa 300’000), d.h. die Berichte widersprechen sich gewaltig. Ich schätze die Schärfe empirisch (Probieren und mit Habanero vergleichen) eher auf gut 100’000 denn auf 30’000. Wichtiger als die Schärfe ist aber die Fruchtigkeit, die sie gegenüber anderen Peperoncinosorten hat. ‚Nduja ist nun eine weiche, scharf nach Peperoni riechende, rote Wurstmasse, eingepackt in einem Schweinedarm und mit einer Schnur zusammengehalten. Auf Brot, oder noch besser auf einer geschwellten Kartoffel aufgetragen, schmeckt die Masse ausgezeichnet. Sie ist vornehmlich ohne irgendwelche Zusatzstoffe haus- und handgemacht und dennoch monatelang haltbar, sogar bei sommerlichen Temperaturen.

Abschied

Die letzten drei Tage in Tropea waren äusserst stürmisch und regnerisch, so dass wir keine grossen Sprünge machen konnten. Morgen verlassen wir Kalabrien und begeben uns an die Südküste der Basislikata. Dort könnte es Mittags- und Abendsonne geben, wenn es denn nicht dauernd regnen würde. Bisher haben wir uns vorwiegend an Nordküsten aufgehalten und wenig Mittags- und Nachmittagssonne auf den Balkonen gehabt, so dass ich mein Solarpanel nicht einsetzen konnte.

Kalabrien erinnert uns ein wenig an Asien: viele unfertige Häuser; oft wird das Erdgeschoss schon bewohnt, während der erste Stock noch jahrelang im Rohbau ist und als „Gerümpelkammer“ verwendet wird. An jeder Strassenecke steht ein sakrales Ding, mit irgendwelchen Heiligenfiguren, die in der lokalen Religion eine Rolle spielen; oft verbeugen sich vorübergehende Passanten oder berühren das Ding ehrfurchtsvoll. Infrastruktur, wie z.B. Kanalisationen sind ungenügend. Bei starkem Regen verwandeln sich Strassen in schlammige Flüsse. Es gibt immer wieder Hotspots herumliegenden Abfalls. Kehrichtsäcke werden einfach an den Strassenrand gestellt.

Aber das ist unser ureigener Eindruck. Trotzdem oder gerade deswegen hat uns Kalabrien sehr gut gefallen. Wir können uns vorstellen, dass es nur einen Monat früher oder im Frühling hier sehr angenehmn sein kann.

Eine Antwort auf „Kalabrien im November – 2. Teil“

  1. Peter, wie immer ist es einfach wunderbar, Deine so schön geschriebenen Reiseberichte zu lesen. Ich freue mich jetzt schon auf die Fortsetzung. Es macht einfach Spaß, Deine gut recherchierten und mit viel Humor und Feinsinn gespickten Sätze zu lesen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.