Unter diesem Titel hat der deutsche Philosoph Hans Jonas 1979 sein Hauptwerk veröffentlicht. Es sollte eine Ethik für die technologische Zivilisation sein.
Die Komplexität der Welt nimmt zu, weil immer mehr Systeme miteinander verbunden sind und voneinander abhängen. Ein Fehler in einem System kann einen Schneeball auslösen, wie beispielsweise in Fukushima. Das Unerwartete tritt zwar zunächst in technischen Systemen auf, da diese aber die Gesellschaft bedienen, greift es auch auf soziale Gruppen über.
Ist übermässiges Vertrauen noch zu verantworten?
Ohne auf Jonas‘ Werk einzugehen, möchte ich eine Passage herauspflücken, die mir in unserem Zusammenhang hilfreich erscheint. Jonas sagt, dass man sich im Handeln eher nach dem „worst case“ anstatt nach dem „best case“ richten sollte, um der Versuchung der Abwiegelung zu entgehen.
Leider ist auch nach Tschernobyl, 9/11, Deepwater Horizon und Fukushima die „We can“-Haltung beliebt und verbreitet. Übermässiges Vertrauen zeichnet soweit jede Projektplanung aus. Je komplexer unsere Welt aber ist, desto sensibler reagiert sie auf unsere Unterlassungen und desto mehr Verantwortung muss der Einzelne übernehmen, wie ich das in meinem letzten Blogpost gefordert habe[1]. Ich kann aber meine Veranwtortung nur übernehmen, wenn alle anderen sie auch übernehmen. Geht das Projekt schief, fühle ich mich als Projektmanager nicht in der Verantwortung, wenn die anderen Stakeholders am Projekt ihre Verantwortung nicht wahrgenommen haben.
Ein Beispiel für die Verantwortung, die ich meine, liegt bei Absolventen einer Weiterbildung. Üblicherweise gehen sie zu vorgegebenen Zeiten in ein Schulzimmer und erwarten, dass ihnen dort ein Dozent etwas erklärt. Das schreiben sie dann auf und nehmen sich vor, es vor der Prüfung auswendig zu lernen. Einen Tag nach der Prüfung haben sie das Wissen wieder vergessen. Hauptsache ist jedoch, dass das Diplom bleibt.
In letzter Zeit macht ein Konzept von sich reden, das sich „Inverted Classroom“ nennt. Dabei sollten sich die Studierenden das Wissen selber aneignen. In der Klasse wird es dann nur angewendet, um zu testen, ob es überall verstanden ist. Ich habe einige Versuche unternommen, Inverted Classroom durchzuführen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich die Studierenden nicht in der Verantwortung sehen, sich den Stoff selbstständig anzueignen. Wozu bezahlen sie denn Schulgeld?
Zur Übernahme der Verantwortung in unserer hochkomplexen Welt gehört für mich auch die Präsenz in den digitalen Medien. Es genügt nicht, sich ab und zu mit einem neuen Berufskollegen oder Kunden in XING zu verlinken, ohne dort auch in Gruppen und Foren aktiv zu sein. Der ständige Dialog mit Personen, die sich ebenfalls in komplexen Situationen befinden, z.B. via Twitter, gehört ebenso zur individuellen Verantwortung.
Die Ursachen des Unerwarteten kann selbstverschuldet sein
In Projekten gibt es neben den üblichen Risiken, die man kennt und sich auf ihr Eintreffen rüstet, das Unvorhersehbare. Es gibt dafür keine Beispiele, denn sobald ich ein Beispiel nenne, ist es nicht mehr unvorhersehbar. Edward Yourdon hat in seinem Buch „Himmelfahrtskommando“[2] versucht, Beispiele von Unvorhergesehenem in Projekten zu geben:
Ihre zwei besten Programmierer sind gerade in Ihr Büro marschiert, um Sie darüber zu informieren, dass sie a) heiraten werden, b) den Zeugen Jehovas beitreten und c) heute ihr letzter Tag in ihrem alten Job ist
Jetzt, wo er das gesagt hat, wäre es für Sie nicht mehr unerwartet, wenn es in Ihrem Projekt tatsächlich eintreffen würde. Sie können sich jetzt Gedanken machen, wie Sie reagieren würden, wenn Ihr Projekt tatsächlich plötzlich Ressourcen abgeben müsste.
In der Tat kann man versuchen, die Ursachen des Unerwarteten zu unterteilen in gänzlich extrinsische (der buchstäbliche „Blitz aus heiterem Himmel“) und teilweise selbstverschuldete. War z.B. Fukushima unerwartet? Das Seebeben und der darauffolgende Tsunami waren in der Tat völlig unvorhergesehen und hatten extrinsische Ursachen. Dass hingegen die Sicherheitssysteme der direkt am Ufer erbauten Atomanlagen dabei in Mitleidenschaft gezogen wurden, war durchaus selbstverschuldet. Die Betreiber machten sich offenbar zu wenig Gedanken, was an diesem Standort alles passieren konnte. Das war unverantwortlich.
Wir entscheiden (in Projekten) meistens aufgrund pragmatischer und kostenspezifischer Leitlinien und ohne weitergehende Folgeabschätzungen. In einem Projekt musste ich für einen Telefonprovider auf ein neues Voice Messaging System migrieren. Das Produkt war eben erst entwickelt worden. Die Entwicklungsabteilung, die sich weit weg vom Kunden im Ausland befand, übernahm die de facto Projektleitung, während ich bloss de jure Projektleiter und kommerzieller Partner des Kunden war. Trotz meines Protestes verkaufte der Accountmanager das System, weil er das Geschäft machen wollte.
Für mehr Handlungsfolgeabschätzungen in Projekten
Es zeigte sich jedoch, dass das System in der speziellen Kundenumgebung nicht funktionierte und der Kunde verlangte Schadenersatz vom Lieferanten, den ich vertrat. Die Entwicklungsabteilung behauptete, dass wir den Kunden nicht im Griff gehabt hätten und weigerte sich, zu zahlen. So kam es zu einem unnötigen Streit, in dessen Verlauf in der lokalen Organisation Köpfe rollten. Der unverantwortliche „We can“-Optimismus wider besseren Wissens, das Aus-dem-Wind-Schlagen jeglicher Warnungen und die Gier nach dem Geschäft haben das Unerwartete verursacht.
Wie kann man aber mittel- und langfristige Konsequenzen von Entscheidungen und Handlungen vorhersagen? Es ist klar, dass es keine Möglichkeit gibt, in die Zukunft zu sehen. Pfadabhängigkeiten engen aber mögliche Entwicklungen schon mal ein, so dass nicht einfach „alles“ passieren kann. Vergleiche mit ähnlich gelagerten Projekten können wertvolle Hinweise geben, auch wenn jedes Projekt einzigartig ist. Im Übrigen gibt es mittlerweile mächtige Entscheidungsunterstützungswerkzeuge, die helfen, mögliche Entwicklungsszenarien aufzuzeigen. Ein Beispiel sind Peter Senges systemische Archetypen. Systemisches Denken ist eine Hauptkompetenz einer verantwortungsvollen Gesellschaft in einer hochkomplexen Welt[3].
Wer nun sagt, dass Unerwartetes nicht simuliert werden könne, hat zwar recht, macht sich aber mitverantwortlich für Katastrophen, die vielleicht durch weitergehende Analysen hätten verhindert werden können.
[1]Addor, P. Muss Führung Überzeugungsarbeit leisten? Dieser Blog, 2014
[2]Yourdon, Edward. Himmelfahrtskommando. Aussichtslose IT-Projekte überleben. Verlag Moderne Industrie. 2004
[3]Senge, Peter. Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der Lernenden Organisation. Klett-Cotta Verlag. 2008 und
Senge, Peter et al. Das Fieldbook zur Fünften Disziplin. Klett-Cotta Verlag. 2008
Hallo lieber Peter,
einmal mehr ein sehr BEMERKENsWERTer Post von Dir.
Deinen Letzten kann ich nun übrigens nochmals besser „verstehen“….
Mit dem Thema (Selbst)Verantwortung rennst Du bei mir „offene Türen“ ein.
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Insbesondere über den Satz
„Ich kann aber meine Verantwortung nur übernehmen,
wenn alle anderen sie auch übernehmen.“
sollten viel mehr Menschen mal nachdenken…
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Dein Beispiel mit den Studierenden ist für mich allerdings weiterhin „dialogwürdig“.
Ich denke, dass Lernen weniger mit der „richtigen Methode“ (klassich oder invertiert),
als viel mehr mit der „Auslösung“ von Motivation (Impulsen) zusammenhängt.
Reduziert man das Thema „Lernen“ sehr, geht es mE dabei um
„Vermeidung“ und „Belohnung“
oder in die Zukunft „gesponnen“ um
Versagen und Erfolg.
Spricht man mit den Kindern darüber, spiegelt sich das in „Fächern“ wieder,
die am liebsten gar nicht mehr besucht werden würden und Fächern,
die ihnen liegen und Freude bereiten.
Zudem wird oft geäußert, dass „kein Sinn“ erkennbar ist…
Daraus schließe ich, dass die Wichtigkeit bzw Sinnigkeit der Themen (Inhalte)
wohl dem „Bildungssystem“ bekannt sind,
nicht aber den Lernenden selbst…
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Mündige Bürger?
Kein Mensch lernt „verantworlich“ zu sein bzw. zu werden,
wenn er die meiste Zeit in seinem Leben Dinge tut,
die er von sich aus vermeiden würde und dass dann auch noch
ohne -selbst- einen Sinn darin erkennen zu können.
== Soweit meine Annahme.
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Alternativen?
Zumindest „etwas erfolgsversprechendere Modelle“ kenne ich aus dem „ausserschulischen Lernen“
und aus dem Prozess- und Projektorientierten Lernen.
Um die „Modelle“ mal anzureissen:
Ein „Fach“ im „ausserschulichen Lernen“ ist zB „Silentium“
(In die Natur gehen, still werden, erleben was „lebendig“ wird & dieses niederzuschreiben…).
Im projektorientierten Lernen sucht sich der Lernende selbst ein
Projekt aus, dass er für wichtig hält und über das er „im Unterricht“ berichtet….
„Führung“ gestaltet in diesen Beispielen also „den Rahmen“ und „die Themenwahl“ etc.
anhand veränderter Kriterien.
Zur Fragestellung
„Was braucht die Welt / Gesellschaft / Wirtschaft / System?“
gesellt sich die Fragestellung:
„Was braucht Mensch für sein ((selbst)verantwortliches) Leben?“
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Vertrauen?
Bei Deiner Frage:
„Ist übermässiges Vertrauen noch zu verantworten?“
würde ich gern das Wort „noch“ zur Disposition stellen.
ME bergen grade die digitalen Medien unfassbar viele Gründe
zur kritischen Betrachtung, wenn es um „Verbundenheit“ bzw. „Vernetzung“ geht.
Schon lange stellt „Mensch“ sich die Frage, ob er vertrauen KANN,
wennn er sich verbindet… (An Schillers Glocke erinnern möchte…)
Die digitalen Medien machen eine Beantwortung dieser Frage bestimmt nicht leichter.
Natürlich liegt aber ein riesiges Potential und unglaubliche Gelegenheit
im vernetzten (verfügbaren) Wissen und dem „Lernen im Dialog“.
Ein Interesse an diesem Potential und ein Bewusstsein für die Gelegenheit
der „Verfügbarkeit“ & des „in Kontakt kommens“, halte ich auf jeden Fall
für ratsam.
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Handlungsfolgeeinschätzung?
Dein „voten“ für mehr Handlungsfolgeabschätzungen in Projekten
kann ich mit besten Gewissen unterstützen.
Ein Bild (oder Diagramm) sagt oft mehr als tausend Worte
und ohne Simulationen wären viele Projekte schlichtweg unverantwortlich.
Bezüglich der (Selbst)Verantwortung haben diese Abschätzungen
allerdings teilweise einen flüchtigen Charakter,
wenn man ein Projekt als „soziales System“ einschätzt.
Solche Systeme haben mE die Eigenschaft sich genau dann anders zu verhalten,
wenn sie mitbekommen, das/wie sie eingeschätzt wurden/werden…
…insofern, kann man quasie durch die Abschätzung (im schlimmsten Fall)
Unvorhergesehenes hervorrufen.
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Eine Anmerkung noch, da ich in Deinem Blog wiederholt
„stark vereinfache“ bzw. trivialisiere“.
Goldrath ging bei der „Theorie of Constraints“ davon aus,
dass 1 ne der 4 wirksamsten Constraints für unser Leben
die Annahme sei, dass die Welt komplex ist.
Wenn ich in Deinem Blog also stark vereinfache
dann, um das Thema weiterzubringen (dem Constraint zu begegnen),
nicht weil ich denke das das Thema trivial sei oder um
„mit Totschlägerargumenten „Recht zu bekommen“ etc. …
Es geht mir dabei eher um einen Perspektivenwechsel von
„komplex“ zu „einfach“.
Ein solcher Wechsel trägt meiner Erfahrung nach
ein hohes Potential an möglichen Erkenntnissen.
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Ich bin KEIN Spezialist für die Fragestellung,
auch wenn „meine Kleinen“ die Reformschule besuchen…
Danke nochmal für den Impuls,
der irgenwo zwischen Deinen Zeilen steckend
mein Nachdenken ausgelöst hat!
Herzliche Grüsse,
Bernd
PS: Sorry, für den Doppelkommentar, der Erste war mal wieder wg. Sonderzeichen „verhackstückelt“…..
Hallo nochmal Peter,
eine kleine „Korrektur“ zum Thema TOC.
Hab mal diesen Link rausgesucht:
http://www.wandelweb.de/blog/?p=1282
Meine Aussage dazu ist schon sehr mißverständlich…
Alles Gute!
Bernd
Hallo Bernd
Ja, das sind alles gute Gedanken.
Zum „übermässigen Vertrauen“. Das ist ein terminus technicus für eine menschliche Heuristik, die die eigenen Fähigkeiten überbewertet. Es hat nichts mit Vertrauen in die Mitmenschen und Partner zu tun, sondern zielt vielmehr auf das Selbstvertrauen hin. Dank einem übermässigen Selbstvertrauen haben es die Menschen wahrscheinlich so weit gebracht. Ich frage mich einfach bloss, ob wir es uns ein einer Welt erhöhter Komplexität noch leisten können.
Hallo Peter,
habe leider erst spät bemerkt, dass Du hier geschrieben hast – endschuldige bitte, es war nicht meine Absicht von Dialog zu sprechen und dann zu schweigen…
Vielen Dank, dass Du meinen überzähligen Post gelöscht hast!
Mit dem „Selbstvertrauen“ hier im Kotext der Komplexität sprichst Du natürlich was völlig Richtiges und vorallem etwas Wichtiges an.
=>
Wenn kein Mensch „die Welt“ in seiner „Ganzheit“ sehen, geschweigeden „verstehen“ kann, wie kann er dann – allein / selbst – dafür sorgen, dass es mit Ihr gut (erfolgreich) weitergeht?
Wie findet er heraus, ob er nicht vlt völlig falsch liegt ;-), wenn sein * Denken * so organisiert ist, ihm seine Realität & Meinung nur zu bestätigen.
Müsste er nicht viel „vorsichtiger“ sein und auch mit „dem Schlimmsten“ rechnen?
Diese Fragestellung kommt mir bei Deinen Zeilen.
Interessant findet ich an dieser Stelle zB das Thema * Intuition *.
(Nicht nur weil es für Lösungen 2ter Ordnung in Frage kommt ;-))
Zum Thema Intuition gibt es auf Youtube eine sehr interessant Doku.
Hier 2(bzw 4) Ausschnitte:
Intuition in der Pädagogik
http://www.youtube.com/watch?v=RCK_eHS2YyU
http://www.youtube.com/watch?v=v_rI2IsSHm8
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Intuition in der Arbeitswelt
http://www.youtube.com/watch?v=mUjvWT_SX-M
http://www.youtube.com/watch?v=wPSAHMaCL1g
Ich persönlich glaube ja, dass manchmal auch so etwas wie „Demut“ / „Rückzug“
seine Vorteile hat und es nicht nur auf „Selbstvertrauen“ / „Voranschreiten“ ankommt,
wenn man (Selbst)Verantwortung übernimmt und lernt….
Viele Grüße,
Bernd