Gestern ging der MOOC über Arbeit 4.0 zu Ende. Er dauerte bloss eine Woche. Jeden Tag gab es mindestens ein Frühstücksvideo, ein Video zum Mittagssnack, eines zum Nachmittagstee und eines mit ausführlichen Interviews. Alles in allem konnte man sich täglich mit den Videos 90 – 120 Minuten beschäftigen. Ich muss schon fast sagen: «leider» waren diese Videos derart interessant, dass es mir schwerfiel, eine Auswahl zu treffen. Am spannendsten waren aber die Mittags- und Frühstücksvideos, die von Anja C. Wagner, alias FrolleinFlow, sympathisch und professionell moderiert und präsentiert wurden.
Arbeit 2.0 oder 4.0?
Was ist mit «Arbeit 4.0» gemeint? Heute wird alles, was ein wenig innovativ daherkommen möchte, mit einer Versionsbezeichnung versehen. Das lehnt sich an die Bezeichnung «Web 2.0» an, die in den frühen 2000er Jahren geprägt wurde und eine Reihe partizipativer und interaktiver Elemente des Web meinte. Seither wurden alle Lebensbereiche, die das Web 2.0 nutzten mit der Versionsnummer «2.0» versehen – Management 2.0, Finance 2.0, Lernen 2.0, sogar Werkbank 2.0, etc. Das war irgendwann einem nicht genug. Er erfand kurzerhand und unter Umgehung der Version 3.0 die Versionsnummer «4.0», vielleicht um zu zeigen, dass er noch viel innovativer ist als die 2.0-Gemeinde.
Im Wandel zur Arbeit 2.0 entsteht eine komplexe Ordnung
Item, Arbeit 4.0 – ich nenne sie nach wie vor «Arbeit 2.0» – bezeichnet eine neue Arbeitskultur, die sich einerseits aus der Tendenz zu vermehrter Wissensarbeit und andererseits aus der intensiven Digitalisierung und Globalisierung entfalten wird. Arbeit 2.0 ist eine Emergenz im Rahmen zunehmender Komplexität. Die Transformation ist in vollem Gange und es ist noch nicht abzusehen, wohin sie uns treibt. Im MOOC wurden eine Anzahl Unternehmen, vorwiegend aus dem Silicon Valley, vorgestellt, die alle disruptive Experimente mit innovativen Arbeitsformen durchführen.
Ist Homeoffice in einer Sackgasse?
Dazu gehören z.B. mobiles Arbeiten und Homeoffice. Eindruck machte mir Automattic. Wer dort arbeitet, kann seinen Arbeitsort selber wählen. Die Mitarbeiter treffen sich innerhalb eines Jahren lediglich während einer Woche zentral und persönlich. Auf der anderen Seite gibt es Unternehmen, die ihre Mitarbeiter täglich mit Bussen, die mit WLAN ausgestattet sind, in die Industriezentren ausserhalb der Stadt fahren. Nix von Homeoffice. Walter Simon fragt sich sogar, ob Homeoffice eine Sackgasse sei.
Die Tomaten-Kooperation
Interessant ist auch das Beispiel von Morning Star, einem Unternehmen, das Tomaten verarbeitet. Morning Star ist eine Kooperation vieler selbstständiger Kleinstunternehmen: Tomatenbauern, LKW-Fahrern, Tomatenverarbeiter, etc. Die Idee heisst «Selbstmanagement» und war derart erfolgreich, dass Morning Star sogar ein Institut dafür gegründet hat, das andere Unternehmen beim Change zum Selbstmanagement unterstützt. http://www.self-managementinstitute.org/ «Selbstmanagement bedeutet die Rückkehr zur Arbeitsethik, denn gut gemachte Arbeit macht zufrieden und Spass», wie Anja ausführte.
Die Dictyostelium-Unternehmung
Damit kommt Morning Star nahe an meine Idee der Dictyostelium-Unternehmung, die ich bereits 1996 beschrieben habe (1) (offenbar sollte ich den deutschen Namen vermeiden, da er bei mangelndem Abstraktionsvermögen eklige Assoziationen schürt).
Einzelne Mikroorganismen aggregieren sich zu einem grossen Organismus, indem sie sich funktional separieren: einige übernehmen die statischen Funktionen eines Stengels, andere die sporenbildenden Funktionen eines Fruchtkörpers, wieder andere die nahrungsversorgenden Funktionen von Transportbahnen im Organismus. Es ist faszinierend, wie sich Tausende von selbstständigen Mikroorganismen höchst speditiv zu einem Makroorganismus formieren und jedes Mitglied eine Aufgabe übernimmt und sie zuverlässig erfüllt.
Arbeit 2.0 weiterdenken
Flexible Arbeitsformen wie Homeoffice und Selbstmanagement sind nur ein Aspekt von Arbeit 2.0. Der MOOC erwähnte noch zahlreiche weitere. Als nächstes gälte es nun, aus den vielen Einzelexperimenten grossflächige Trends abzuleiten. Eine andere wichtige Frage, die im MOOC am Rande thematisiert wurde, ist die Frage nach den sozialen Auswirkungen von Arbeit 2.0. Werden reiche Länder die gut ausgebildeten Wissensarbeiter stellen und die stupide Arbeit den armen Ländern überlassen? Wird Arbeit 2.0 zu einer grösseren Polarisierung von Arm und Reich führen? Wird die Digitalisierung grundsätzlich Arbeitslosigkeit fördern oder im Gegenteil mehr (Wissens-)Arbeit generieren?
(Bedingungsloser)
Basislohn gehört auch zu Arbeit 2.0
Es ist seltsam: seit wir «mit Pein den Acker bebauen» müssen, «von dem wir genommen sind», bemühen wir uns, vor allem stupide Arbeit zu automatisieren und mit viel Technologie unsere Mühsal zu lindern. Eine gleichmässige Aufteilung der restlichen Arbeitslast scheint aber im Rahmen des gültigen Wirtschaftsmodells nicht möglich zu sein. Dieser Zusammenhang tangiert das aktuell heiss diskutierte Thema eines bedingungslosen Grundeinkommens, über das in der Schweiz nächstens abgestimmt wird.
Dank
Arbeit 2.0 ist ein gesellschaftlich zentrales Thema, das von vielen anderen Themen abhängt und viele andere Themen beeinflusst. Umso grösser ist Anja C. Wagners Verdienst, diesen MOOC durchgeführt zu haben und uns an ihrer Reise ins Silicon Valley und dem Besuch der Tim O’Reilly Konferenz teilhaben zu lassen. Der MOOC trägt zum besseren Verständnis des aktuell stattfindenden Wandels bei. Vielen Dank, Anja!
(1) Addor, P. Die Schleimpilz-Unternehmung. gdi-impuls 3/1996, S. 38-47
Jetzt verstehe ich endlich die Schleimpilz Unternehmung. Vor 20 Jahren war das noch ein wenig schwierig ;-). Ich habe das Paper quergelesen und kann sagen, dass heute auch andere Industrie (im Vergleich zur Automobilindustrie) Prozesse wie VMI anwenden. Bei meinem ex-Arbeitgeber habe ich das beobachtet, ebenfalls die EDI integration mit Lieferanten und teilweise Kunden (wie z. B. Amazon für das Consumergeschäft).
Du schreibst „Eine andere wichtige Frage, die im MOOC am Rande thematisiert wurde, ist die Frage nach den sozialen Auswirkungen von Arbeit 2.0. Werden reiche Länder die gut ausgebildeten Wissensarbeiter stellen und die stupide Arbeit den armen Ländern überlassen?“. Dazu sage ich: Das ist doch längst Realität! Und noch mehr: Es geht sogar – vor allem in der IT Industrie, aber nicht nur – so weit, dass immer mehr auch höher qualifizierte Arbeit resp. Wissensarbeit in Billiglohnländer ausgelagert werden! (Daher habe ich die Entwicklung vorweggenommen, habe mich quasi selbst ausgelagert und lebe jetzt in solchen Ländern 😉 ). Ich kenne auch Leute, die z. B. hier in Malaysia als Buchhalter für amerikanische Unternehmen arbeiten (in deren lokalen Büros hier). Auch ein anderer meiner Ex-Arbeitgeber aus dem Consulting Bereich lässt z. B. die Lohn- und Spesenabrechhnungen in Irland erledigen, schon lange nicht mehr in Zürich, wo ich angestellt war.
Und Leute wie der amerikanisch Out-of-the box Denker und Investor James Altucher sagen sogar, dass die Knowledge Economy längst vorbei ist, weil diese Wissensarbeit eben bereits „offshore“ gemacht werden kann. Er schreibt in seinem etwas sehr reisserischen, typisch amerikanischen Blog Post (http://www.jamesaltucher.com/2016/02/steal-these-2-profitable-ideas/) das folgende: „Listen… we are NOT in a knowledge economy and we haven’t been for at least 5 years and probably closer to 20. The middle layer of the economy: middle management and the “knowledge workers” are being outsourced or demoted or replaced by temp staffers or robotics or simply fired. It’s because we now outsource knowledge.“
Er übertreibt sicher ein wenig, und die Situation in Europa ist nicht so extrem wie in den USA (für amerikanische Unternehmen ist z. B. Offshoring noch einfacher, weil in den Philippinen, Indien und Malaysia fliessend Englisch gesprochen wird). Aber er hat im Grunde schon recht. Ein reiner Programmierer, der früher z. B. noch in der teuren Schweiz im Büro des Kunden sass, kann das gleiche immer einfacher aus günstigen Ländern erledigen (oder sein Kollege dort). Mit der Kommunikationstechnologie ist in diesen Berufen auch die Zusammenarbeit kein Problem mehr. Daher müssen wir, wenn wir zu Hause bleiben wollen, uns neu erfinden, neue Ideen generieren und verwirklichen, noch innovativer und kreativer werden, interdisziplinär denken und breitere Fähigkeiten erlangen.
Sehr gute Gedanken!
Ist es denn nicht grundsätzlich gut, dass Wissensarbeit in Schwellenländer ausgelagert wird? Dann verteilt sich die „gute“ Arbeit und bleibt nicht nur in den hochentwickelten Länder. Du schreibst ja auch, dass bisher die interessante Arbeit in den hitech-Ländern blieb und nur die stupide in Schwellenländer ausgelagert wurde. Jetzt scheint etwas ins Rutschen zu kommen.
Mir scheint, dass Altucher diesen Prozess verurteilt. Warum? Und warum meint er, dass wir nicht in einer Wissensgesellschaft leben, wenn wir Wissen outsourcen? Dieser Outsourcing-Prozess globalisiert die Wissensgesellschaft doch einfach.
Als einzige Herausforderung in diesem Prozess sehe ich, was Du am Schluss schreibst: Dass damit die Arbeit in den Hochpreisländer immer anspruchsvoller wird. Was tun die Leute dort, wenn sie die Wissensarbeit in Billiglohnländer gegeben haben? Sie müssen „noch innovativer und kreativer werden, interdisziplinär denken und breitere Fähigkeiten erlangen“. Wenn wir uns da nur nicht überfordern. Das Risiko bleibt, dass wir am Ende gar nichts mehr zu tun haben, weil wir alles outgesourct haben 🙂
Schön, dass Du verstehst, worum es mir in der Schleimpilz-Unternehmung gegangen ist. VMI und EDI waren damals die innovativen Technologien. Heute würde ich in einem solchen Paper von Digitalisierung allgemein und Web 2.0 im Speziellen schreiben. Wenn Du also meinen Artikel liest, musst Du in Gedanken die alten Technologien durch die heutigen ersetzen.
Genau, es ist grundsätzlich für die Welt und die Schwellenländer natürlich gut. Für uns wird’s anspruchsvoller, darum geht es. Daher verurteilt er es, oder macht vielmehr auf die Notwendigkeit zum Wandel aufmerksam.
Er übertreibt nicht nur ein wenig. In Indien, dem traditionellen IT Outsource-Land kochen die Informatiker nämlich auch nur mit Wasser. Natürlich ist es dort grundsätzlich billiger, wenn man mal von den verdeckten Kosten absieht bis die alle dort etabliert sind und bis alle Sozialprogramme und Abgangsentschädigungen hierzulande bezahlt sind.
Zudem habe ich das gleiche vor kurzem gemacht. Ich war im Büro meines Bruders in Venezuela wo man billiger leben und arbeiten kann. Via VPN Internet war mein Lab-Tob im Netz der AXA. Dennoch war es unumgänglich täglich ca. 10 mal mit meinen Kollegen zu reden. Nur so geht es wenn man in einem Team ist. Und es ist angenehmer zu diskutieren und zu zeichen wenn die Kollegen im gleichen Raum sitzen. Fazit: Kommunikationstechnologie alleine ist noch lange kein Schlüssel, dass man mit diesem Out-Gesourcten besser fährt, oder, dass dieser dort einen besseren Job macht. Der soziale Kontakt ist nach ca. 3 Monaten jeweils überfällig.
Ich denke James Altucher kennt den Betrieb wie den weltbekannten Flugzeughersteller Pilatus nicht. Welcher der qualifizierten Chefs, Ingenieure, Gruppenleiter, Flugzeugmechaniker, und hochqualifizierten Facharbeiter könnten dort von der Geschäftsleitung wohl out-gesourced werden? Keiner!
Für den Pilatus-CEO ist es etwas vom Wichtigsten, dass einer der auch wirklich ins Team passt. Team-Arbeit, Zusammenarbeit, Vertrauen, Face to Face, Hand in Hand, ist einer der Schlüssel zum weltweiten Erfolg des Unternehmens.
Ich habe vor ca. 20 Jahren einmal den SW Engineering Prozess dieses Unternehmens studiert soweit er zugänglich war via Internet, und war überrascht von dessen Entwicklungsstand und Hochwertigkeit. Es hat mich daher nachher auch nie überrascht, dass dieses Unternehmen weltweit Erfolg hat. Ich würde sagen: Das Vorbild PILATUS lässt grüsse.
Das stimmt sehr wohl. Verteilte Teams sind auch eine Herausforderung und klappen nicht immer. Es braucht die richtige Kultur, die richtigen Tools und viel Disziplin von allen.
Und die Top Ingenieure/Entwickler werden sicher auch immer eine Stelle bei der Pilatus & co. haben. Google stellt schliesslich ihre Top Leute auch die meisten in Kalifornien an, hat aber daneben auch in Indien ein Entwicklungszentrum, soviel ich weiss.
Ich habe selbst auch mit indischen Entwicklern Erfahrung gemacht und finde ebenfalls, dass das Offshoring überschätzt wird und die Kosten oft durch den Zeitverlust ausgeglichen werden Jedoch glaube ich, dass sich das mit der Zeit ändern wird (bis dann die Löhne in Indien & co. so stark gestiegen sind, dass sich der Prozess vielleicht wieder umkehrt – wenn wir bis dahin nicht alles verlernt haben).
Hallo Peter,
vielen Dank für Dein Teilen der Infos aus dem MOOC.
Interessant zu lesen, dass der „Lifstyle“ des mobilen (von Zuhause) Arbeitens in Frage gestellt wird.
Bei der Tomatenkooperation und dem Selbstmanagement musste ich an die solidarische Landwirtschaft denken: http://www.solidarische-landwirtschaft.org/de/was-ist-solawi/die-idee/
– eine spannende Idee, wie ich finde.
Bei den Outsourcing-Gedanken des Investors, fällt mir noch ein, dass oft die spannendere Frage ist, wie der Geldkreislauf ist und ob es durch (oder in die) „richtigen“ Taschen fließt (geht). Man kann ja durchaus Wohlstand erreichen, indem man andere (wie auch immer) arbeiten lässt ;o)
In diesem Sinne noch einen schönen Tag wünschend,
Bernd
Ich glaube nicht, das Homeoffice eine Sackgasse ist. Klar wird es immer wieder Unternehmen geben, die was neues Erfinden und umsetzen. Ich glaube eher das die Arbeit von Zuhause aus immer weiter ausgebaut wird, sobald die Unternehmen die Vorteile für dich entdeckt haben.
Klar! Ich glaube auch, dass home und mobile office keine Sackgassen sind. Wenn ich den Autor richtig verstanden habe, glaubt auch er an home und mobile office, berichtet jedoch über den Kontrollwahn der (mittleren) Manager, was eben den Trend zum home office noch ausbremst.