Das vierte Kapitel von Werner Hartmanns und Alois Hundertpfunds Buch über digitale Kompetenz handelt von Globalisierung und interkultureller Kompetenz (1).
Globalisierung sehe ich als eines der komplexitätsschöpfenden Muster in unserer Gesellschaft.
Globalisierung = VT + IT
Globalisierung ist nicht in erster Linie eine Folge der Digitalisierung, sondern der Transport – und Verkehrstechnologie (VT), wie sie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstand. Nur mit effektiven Transportmitteln für Menschen und Waren ist es überhaupt möglich, weiträumige und weltumspannende Geschäfte zu machen, wodurch im Alltag Menschen der verschiedensten Kulturen vermehrt zusammenarbeiten müssen. Um die nötigen Massen (an Menschen und Waren) verschieben zu können, müssen die Transportmittel effizient gesteuert werden können, was nur mit digitaler Technologie möglich wurde.
Unter Transportmittel verstehe ich in erster Linie Automobile (PW und LKW), Flugzeuge und Schiffe. Automobile sind nur regional einsetzbar, sie dienen der Feinverteilung. Mitte des 20. Jahrhunderts waren Flüge noch sehr exklusiv und teuer. Sie eigneten sich nicht zur Globalisierung. Erst mit dem Aufkommen von leistungsfähigen und günstigen Computern wurde es möglich, so viele Flugzeuge und Schiffe gleichzeitig in der Luft und auf dem Wasser zu halten, dass sich der Transport von Waren und Menschen lohnt. Heute sind sogar Automobile mehr Computer als mechanische Maschinen und der dichte Strassenverkehr wäre ohne steuernde IT-Systeme nicht möglich. Verkehrstechnologie erschöpft sich denn nicht einfach im Herumkutschieren eines Fahr- oder Flugzeugs. Verkehrstechnologie ist viel komplexer!
Das Vermischen der Nationalitäten
Die Globalisierung fiel aber mit der Erfindung des Computers nicht vom Himmel. Auf den Geschmack weltweiten Handels ist man bereits einige Jahrhundert vorher gekommen. Mit dem Ausbau der Eisenbahn als Mittelstreckentransportmittel begannen sich vorerst die Völker in Europa zu mischen. In den 50er und 60er Jahren kamen grosse Massen von Italiener und Spanier auf die Alpennordseite, weil hier die Industrie boomte und Arbeitskräfte brauchte. Umgekehrt begannen die Menschen des Nordens, an der Mittelmeerküste Ferien zu machen. Das war in den 50er und 60er Jahren eine durchaus neue Entwicklung.
Natürlich standen sich diese Nationalitäten einigermassen nahe, und trotzdem begegneten sie sich vorerst skeptisch. Aber die Menschen begannen sich bald in grösseren Regionen zu durchmischen. Mit zunehmenden Transportmöglichkeiten arbeiteten immer mehr Mitteleuropäer in Ländern des mittleren Ostens und Afrika. Umgekehrt lebten Menschen aus afrikanischen und asiatischen Länder bereits in den 60er Jahren in mitteleuropäischen Städten.
Technical Natives
Damals setzten die Unternehmen auch immer mehr Computer ein. Diese waren zwar noch wenig leistungsfähig und von personal computing weit entfernt. Aber sie steuerten Transport und Produktion, die immer mehr automatisiert wurde. Das erforderte von den Mitarbeitern zunehmende (Aus-)Bildung und Fähigkeiten im Umgang mit der neuen Technologie. Zudem mussten vor allem die jungen Leute lernen, ein Automobil zu lenken und sich im Dickicht des Städteverkehrs, der Verkehrsregeln und –gesetzgebung zurecht zu finden.
Die Menschen der Generation, die zwischen 1940 und 1960 geboren wurden, waren „technical natives“. Sie entwickelten im Umgang mit allerlei technischen Geräten eine Selbstverständlichkeit, die vorher nicht benötigt wurde. Viele arbeiteten in den 60er und 70er Jahren am Arbeitsplatz mit Automaten, Computer, Transport- und Baumaschinen, etc. und benutzten privat, TV, tragbare Radios, Telefone, Fotoapparate, Walkie Talkies, Tonaufnahmegeräte, u.a. für die Speicherung von Musik, oder allerlei Haushaltgeräte. Niemand hat die Angehörigen der jungen Generation, die mit den neuen Technologien so selbstverständlich umging, deshalb speziell bewundert.
Unvorhersehbarkeit
Innerhalb der nächsten 10 Jahren kamen Personal Computer auf den Markt. Ich kaufte meinen ersten 1982 und versandte damit 1984 das erste Mail. Es war für mich eine natürliche Fortsetzung der technologischen Entwicklung der letzten paar Jahrzehnte.
Social Media und andere Web 2.0 Technologien führen zu einer zunehmenden globalen Kommunikation. Das kann beim Aufbau komplexer Muster eine verzögernde Konsequenz haben, weil lokale Fluktuationen sich schneller durch das System propagieren und verhindern, dass sich die Fluktuationen durchsetzen können. Das hätte Entspannung zur Folge. Wenn das System jedoch sehr gross – eben global – oder morphologisch stark heterogen ist, dann können sich Fluktuationen auch nur auf Teilen des Systems durchsetzen. Das manifestiert sich in den Meinungsaggregationen, von denen ich im letzten Blog gesprochen habe, gegen die auch Kritik keine Wirkung zeigt, bis hin zu politischen und weltanschaulichen Überzeugungen, die sich in gewissen Regionen der Welt stabil aufbauen. An den Grenzen der einzelnen Systemstrukturen kann es dann verstärkt zu Spannungen kommen, bei deren Auflösung sich eines der komplexen Muster durchsetzen kann.
Die Komplexität, d.h. die globalen Meinungs-, Handels- und Verhaltensmuster, ist derart hoch, dass zukünftige Entwicklungen auch von Experten nicht mehr vorhersehbar sind.
(1) Werner Hartmann, Alois Hundertpfund: Digitale Kompetenz. Was die Schule dazu beitragen kann. hep Verlag, 2015, 176 Seiten. ISBN 978-3-0355-0311-1
Interessanter Post! Also du sagst, wegen der „Digitalisierung “ der Globalisierung sind Entwicklungen weniger Voraussagbar als vor 50 Jahren?
Ja, richtig. Je höher die Komplexität, desto unvorhersehbarar ist die Enwicklung des Systems.
Ich sagte, dass Globalisierung ein typischer Komplexitätstreiber ist. Voraussetzung für Globalisierung sind Transport-/Verkehrstechnologie und IT.
Zusätzlich zur Globalisierungskomplexität kommt nun noch Komplexität durch personal computing und Web-2.0. Einerseits können Unternehmen und Staaaten nicht mehr einfach machen, was sie wollen. SoMe haben enorme Macht.
Andererseits führen SoMe vermehrt zu Meinungsmoden. Wenn ein paar einigermassen einflussreiche Twitterer etwas geil finden, kann das zu einer Meinungscommunity führen. Das ist so etwas wie ein umgekehrter Shitstorm, aber für eine Meinung, nicht für eine Person. Plötzlich finden das „alle“ geil.
Es ist immer weniger vorhersehbar, welche Tendenz überwiegen wird.