Prinzipien einer komplexen Organisation sind
- Fähigkeit zur Selbsterhaltung
- Fähigkeit zu Vernetzung
- Fähigkeit zur Innovation
- Fähigkeit, Neues zu lernen
Urban Dynamics
Ein illustratives Beispiel ist eine Stadt («Urban Dynamics»). Offensichtlich gibt es in einer Stadt eine Organisation.
Hier sind eher Wohngebiete, dort eher Industrie- oder Gewerbegebiete, drüben ist das Einkaufsviertel. Sogar die Wohngebiete sind unterteilt in Quartiere für Eisenbahner und solche für Handwerker, lebendigere und stillere Quartiere, Villenviertel und Slums. Obwohl die Stadtorganisation über Jahre gegeben ist, ist sie nicht unveränderlich. Jeder Stadtbewohner kann mehrmals sogenannte Umnutzungen beobachten.
Überlegen Sie sich die eingangs erwähnten vier Prinzipien am Beispiel Ihrer Stadt. Kann eine Stadt lernen? Haben Sie in Ihrer Stadt Innovationen gesehen? Was sind städtische Innovationen? Gewiss sind die Quartiere miteinander vernetzt. Die Beobachtung der Selbsterhaltung ist in normalen Zeiten vielleicht etwas subtiler. Eindrücklich ist der Wiederaufbau des völlig geschleiften Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg.
Spannungen im System
Voraussetzungen für die vier Prinzipien sind nach Erich Jantsch (1)
- Offenheit für Stoff-, Energie- und Informationsflüsse
- Aufrechterhaltung einer Spannung, die die Systemelemente umhertreibt (weit vom Gleichgewicht entfernt)
- Gegenseitige Beeinflussung der Teilsysteme («Crosskatalyse»)
Die Spannung ergibt sich aus dem (Durch-)Fluss von Stoffen, Energien und Informationen. Überlegen Sie sich, was so im Verlauf eines Tages in Ihre Stadt hereinfliesst und was hinaus! Wie viele Blumenköpfe oder Liter Benzin kommen wohl innerhalb von 24 h in eine Stadt herein? Wie viel Wärme wird in dieser Zeit abgestrahlt und wie viele Liter Abwasser fliessen aus der Stadt hinaus? Um diese Durchflüsse zu gewährleisten, wird eben eine gewisse Organisation benötigt. Oder umgekehrt: die Stadtorganisation ergibt sich aufgrund der Durchflüsse.
Insofern könnte man die ersten beiden Punkte in Jantsch’ Aufzählung zusammenfassen. Spannungen entladen sich in Störungen, sogenannter „Fluktuationen“, modern auch Disruptionen genannt. Sie ordnen das System durch Selbstorganisation neu.
Der dritte Punkt ist eigentlich keine Voraussetzung der Prinzipien, sondern eine Wiederholung der Fähigkeit zur Vernetzung. Gegenseitige Beeinflussung ist Vernetzung.
Bewertungen
Peter Kruse nennt die folgenden drei Voraussetzungen für die vier Prinzipien (2):
- Vernetzung
- Erregung
- Bewertung
Hier haben wir sie wieder, die Vernetzung! Darin sind sich wohl alle einig. Das ist das, was Jantsch etwas geschwollen «Crosskatalyse» genannt hat. Jantsch’ Aufrechterhaltung einer Spannung nennt Kruse «Erregung». Neu bei Kruse ist die Bewertung. Er denk an das komplexe System «Gehirn», dessen Teile hochvernetzt und in ständiger Erregung sind. Um nun fähig zu sein, Neues zu lernen und Innovationen zu erzeugen, müssen die zufälligen Erregungsmuster bewertet werden. Das leuchtet ein. In einer multikulturellen Stadt kommt es zu ethnischen Quartiere. In New York gibt’s ein italienisches («Little Italy») und daneben ein chinesisches Quartier («Chinatown»). Das kommt daher, dass die Leute ihresgleichen höher bewerten. Kruse macht darauf aufmerksam, dass Bewertung durch das limbische System, d.h. gefühlsbezogen vorgenommen wird. Ethnische Quartierbildung beruht z.B. auf Heimatgefühlen.
Hoffentlich gibt’s auch mal ruhige Zeiten!
Ein komplexes System wird durch die Flüsse in Erregung versetzt und versucht, sie möglichst unbeschadet auszuhalten. Das gelingt, indem es sich geeignet organisiert. Die Organisation kostet jedoch etwas, was das System aus den Flüssen nimmt. Hier macht es die Not zur Tugend. Es zweigt einen Teil der Flüsse zum Bau und Unterhalt derjenigen Organisation ab, die es braucht, um die Flüsse möglichst unbeschadet durchzuleiten. Man spricht von Dissipation und von dissipativer Organisation. Lesen Sie dazu z.B. „A Scrum Team as Dissipative Structure„.
In die Stadt herein kommen hochwertige Materialien (Nahrung, verwertbare Energie, Investitionskapitalien, etc), hinaus fliessen Abfälle, unverwertbare Wärme, etc. Die Stadtbewohner verwandeln das Hochwertige in Niederwertiges und erhalten so die Stadtorganisation.
Solange die Spannung gleichbleibt, solange bleibt auch die Organisation aufrecht. Wenn sich etwas in der Umgebung ändert, muss die Organisation in einer leidvollen Phase angepasst werden. Ziel ist es aber, den Zustand und die Ordnung möglichst lange stabil zu halten. «Alles fliesst» oder «das einzig Konstante ist die Veränderung» kann nicht das Ziel einer Unternehmung sein! Darüber regt sich sogar Kruse auf (45 Sekundenausschnitt aus dem Video):
Untenehmensstrukturen
Will ein Unternehmen mit Komplexität klarkommen, muss es sich überlegen, welche Organisation die beste ist, um im Spannungsfeld von Wettbewerb, Kostendruck und Politik nicht zu zerbrechen. Niels Pflaeging identifiziert drei komplementäre Organisationsstrukturen in einem Unternehmen (3):
- Die informelle Struktur (direkte Expertenbefragung, «old boys network», Kaffeeküche, Gerüche und Klatsch, etc.)
- Die Wertschöpfungsstruktur (Verkaufseinheiten, Entwicklungseinheiten, Projekteinheiten, etc.)
- Die formelle Struktur (Hierarchie)
Die notwendigen Organisationsstrukturen entstehen in einem komplexen System stets durch Selbstorganisation. Besteht das System aber aus «strebsamen» Akteuren, können sie zuweilen auch mal zusätzliche Strukturen bauen, die vielleicht suboptimal sind. Auszuschliessen ist das nicht. Ich denke, dass die informelle und die Wertschöpfungsstruktur insofern «natürliche» Strukturen sind, als dass sie auch in einem Unternehmen auftauchen, deren Individuen wenig «strebsam» sind, wie z.B. in einem Bienen- oder Ameisenstaat oder einem Fischschwarm. Eine formelle Struktur taucht wohl erst dort auf, wo sich einige Macht aneignen, sei es, um sich vor den anderen zu bereichern, sei es aus Angst, die selbstorganisierten Strukturen seien nicht genügend tragfähig, um «ihr System» vor dem Zerbrechen zu bewahren.
Mich interessiert, ob die informelle und Wertschöpfungsstrukturen einer Unternehmung tatsächlich die natürlichen Strukturen sind und ob es noch andere Möglichkeiten gäbe, d.h. ob sie von den (selbst)bewussten Akteuren eines Unternehmens willentlich aufgebaut werden oder ob sie auch entstehen würden, wenn niemand etwas dazu täte.
Interessant ist auch die Frage, inwiefern neue Konzepte, wie Holokratie und Heterarchie, Arbeit 4.0 oder «working out loud» zu neuen Unternehmensorganisationen führen werden, die die Pflaegingschen Kategorien ergänzen.
(1) Erich Jantsch: „Die Selbstorganisation des Universums: Vom Urknall zum menschlichen Geist“ (978-3446170377). 1992 Hanser-Verlag.
(2) Peter Kruse über Vernetzung, Erregung und Bewertung.
(3) Niels Pflaeging: «Komplexithoden» (978-3-86881-586-3). 2015 by Redline Verlag. Münchner Verlagsgruppe GmbH, München
Hallo Peter,
wieder einmal ein interessanter Artikel.
Vielen Dank, für die Anregung zum Nachdenken.
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Mich interessiert, ob die informelle und Wertschöpfungsstrukturen einer Unternehmung tatsächlich die natürlichen Strukturen sind und ob es noch andere Möglichkeiten gäbe, d.h. ob sie von den (selbst)bewussten Akteuren eines Unternehmens willentlich aufgebaut werden oder ob sie auch entstehen würden, wenn niemand etwas dazu täte.
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Ich persönlich glaube, dass die „Natürlichkeit“ der informellen Struktur vom „Gemeinschaftsgeist“ bzw. von der Art/Reife der Gemeinschaft ( bsp: http://gemeinschaftsbildung.com/4phasen.html) abhängig ist.
Dabei stellt sich für mich die Frage, ob die Teilnehmer -authentisch- und -vertieft- (transparent) kommunizieren können. (Man könnte auch sagen, sich Subjekte sein lassen können…)
Entscheidend ist mE, dass sich die Gruppe nicht (ausschließlich) über ihre gemeinsamen Regeln/Gesetze/Richtlinien definiert, sondern über die Ausrichtung auf Ihre (inneren) Werte.
Durch diese Ausrichtung ist nicht nur gegeben, dass sich ein System (und damit auch Strukturen) von Innen -quasie aus sich selbst- heraus entwickeln kann…
…durch die Emergenz entsteht auch eine „Instanz“ (der Gemeinschaftsgeist?) die von Einzelnen weder geplant noch kontrolliert werden kann. Die aber idealerweise jederzeit zu neuen -optimierten- (formellen)Strukturen führen kann.
Diesen Gruppen bzw. Gemeinschaftsgeist nennen manche (glaube ich) auch kollektive Intelligenz….
Um bestehen zu bleiben, benötigt eine solche Instanz me uA eine Aufgabe (vlt die Wertschöpfungsstruktur?).
Soweit zu meinen spontanen Überlegungen.
Vielleicht ist ja etwas brauchbares für Dich dabei…
In diesem Sinne,
viele Grüße,
Bernd
Vielen Dank, Bernd. Du denkst also, dass die informelle Struktur in Form eines Gemeinschaftgeistes auf der gemeinsamen Aufgabe in Form der Wertschöpfungsstruktur basiert, so quasi: „Wertschöpfungsstruktur induziert informelle Struktur“? Interessanter Gedanke.
Noch mehr interessiert mich aber, inwiefern die neuen Trends von Arbeit 4.0 – Holokratie, working out loud, Unternehmensdemokratie, etc. – die Strukturmoden stören werden.
Hallo Peter,
eigentlich stelle ich es mir so vor, dass der Gemeinschaftsgeist die informelle Struktur prägt / definiert (vielleicht sogar überhaupt erst entstehen lässt). Ausserdem denke ich, dass eine Gemeinschaft, die keine Aufgabe hat (also Probleme löst), diesen speziellen „Gemeinschaftsgeist“ (Intelligenz) verliert.
Natürlich reden die Leute aber weiter in Teeküchen und Fluren etc…
Ja, spannende Frage, was diese Trends bewirken werden.
Die Ideen dahinter haben ja anscheinend schon Einiges bewirkt ;o)
Wünsch Dir einen guten Start ins Wochenende!
Bernd
Hallo Herr Addor,
ich hätte da mal eine Frage zur „Stadt als System“:
Wie konzipieren Systemdynamiker eigentlich hier das Ziehen
und Erhalten einer Grenze, ohne die es schwerfällt, überhaupt von einem dynamischen und komplexen System zu sprechen.
Für Bielefelder macht es dagegen Sinn, eine Stadt als eine Agglomeration von allen möglichen Systenen (Interaktionen, Familien, Organisations und Funktionssysteme) zu konzipieren, wobei insbes. das Zusammenleben und Aufeinandertreffen von Unbekannten ein charakteristisches Merkmal von Städten ist. Aber das ist nicht dasselbe wie eine Stadt selbst als (komplexes) System zu konzipieren, das zwischen sich und seiner Umwelt unterscheidet, lernt, etc.
Beste Grüße
P. Bormann
Das System „Stadt“, inkl. ihrer Grenzen, ergiebt sich in natürlicher Weise durch Selbstorganisation aus den Fluktuationen.
Ein ähnliches und eindrückliches Beispiel ist ein Termitenhügel. Er entsteht dadurch, dass jedes Individuum ein kleines mit Pheromonen getränktes Paket Erde irgendwo ablegt. Das nächste Individuum ist geneigt, sein Paket dort abzulegen, wo schon eines liegt. Je grösser ein Häufchen, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass es stärker wächst als ein kleineres. Sie sehen, dass sich die Grenzen dieses Gebildes in natürlicher Weise selbst definieren.
Ich war allerdings von der Nützlichkeit des Begriffs „Grenze“ nie überzeugt. Die Sichtweise „Hier das System, dort die Umwelt“ ist mir zu aristotelisch. Es impliziert den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, grad so, als ob es nur „System“ und „Umwelt“ gäbe und dazwischen eine Grenze. Für mich durchdringt ein System stets das ganze Universum, allerdings je weiter weg vom „Systemzentrum“, desto schwächer.
Offensichtliche Systemgrenzen gehören meist bloss zu unteren Ebenen des Systems. Sie als System hören ja auch nicht mit Ihrer Haut auf. Die Haut ist bloss die Grenze der biologischen Ebene des Systems, das eine Person ausmacht. Die Wand des Termitenhügels ist bloss die Grenze des Systemkerns. Die Tiere, die sich ständig ausserhalb des Hügels bewegen, gehören durchaus weiterhin zum System und bestimmen seine Eigenschaften.
(1) Termitenhügel.
Ja, das sehe ich ähnlich. Ein soziales System resultiert m.E. hieraus dank eines elektrisch-olfaktorischen Koordinationsmechanismus.
(2) „Für mich durchdringt ein System stets das ganze Universum, allerdings je weiter weg vom „Systemzentrum“, desto schwächer.“
Wenn man ein System als „dynamischen Operationszusammenhang“ versteht, dann wäre die Reichweite begrenzt durch die Reichweite der Operationen. Genau daraus resultiert dann (rein operativ, nicht „als Beobachtungskonstrukt) der Unterschied zur Umwelt. Das besagt: Die Operationen können nicht an die Umwelt anschließen (wie auch?), sondern nur an systemeigene Operationen. System ist demnach ein Kürzel für die Konnektivität von irgend welchen Operationen (zumindest mehr als einer einzigen). Aber das ist eher eine Luhmannsche Interpretationsweise.
Man könnte mit Dirk Baecker einfach darauf verweisen, dass es Aufgabe eines (sprachbewehrten) Beobachters ist, einen entsprechenden Explikationsmechanismus zu präsentieren, der nachvollziehbar veranschaulicht, wie ein „System“ möglich sein kann.
(3) Grenze j/n?
„Sie als System hören ja auch nicht mit Ihrer Haut auf. Die Haut ist bloss die Grenze der biologischen Ebene des Systems, das eine Person ausmacht. “
Mit dem „bloss“ ist es so eine Sache.
* Einerseits ja, wenn man an Wahrnehmungsverabeitung und höhere Bewußtseinsfunktionen denkt. Freilich kann ich meine Gedanken nur an andere meiner Gedanken anschließen, aber bspw. nicht zu Ihnen hinüberdenken. Und dass bspw. mein Schreiben kongruent mit meinem Denken wäre, darf man wohl (nach allem was in der soziologischen Systemtheorie, in Derridas Dekonstruktionen oder in Laclaus Diskurstheorie seit ca. 50 Jahren gelaufen ist) als „obsolete Position“ verabschieden.
* Andererseits nein: Für ein operatives System ist Grenzgeneriung und -erhaltung wohl eine zentrale Sache, zumindet kann es kongruent mit dynamischer Systemerhaltung gesetzt werden. Wenn das durcheinander kommt, kann das „verheerende“ Folgen zeitigen. Bspl: Wenn unser Immunsystem nicht mehr zwischen „Außen“ und „Innen“ zu differenzieren vermag, drohen entweder der baldige Tod oder Autoimmunerkrankungen.
„Die Tiere, die sich ständig ausserhalb des Hügels bewegen, gehören durchaus weiterhin zum System und bestimmen seine Eigenschaften.“
Hier wäre meine Frage: „Warum?“ Ich würde bspw. nicht sagen, dass das einfach am „Elementcharakter“ der Termiten hängt, sondern daran, dass sie den elektrisch-olfaktorischen Koordinationsmechanismus weiterhin unterhalten. Würde man bei Termiten / Ameisen die elektrisch-olfaktorische Signalübertragung unterbinden, wären die Tiere m.E. kein Teil des Termitensystems mehr. Oder ein anderes Gedankenexperiment: Man kreiert identisch aussehende Robotertermiten, die jedoch per Infrarot untereinander kommunizieren. Die wären auch nicht „Teil“ des natürlichen Termitensystems…
(4) Wie dem auch sei: Könnten Sie diesen Passus noch ein wenig explizieren?
„Das System „Stadt“, inkl. ihrer Grenzen, ergiebt sich in natürlicher Weise durch Selbstorganisation aus den Fluktuationen.“
„Sozial(wissenschaftlich)“ macht das m.E. wenig Sinn, denn hier wären wohl primär Handlungen und / oder Kommunikationen als systemisch zu konzipieren, aber auch das hiesse nicht, dass eine Stadt selbst „handelt, lernt oder kommuniziert“. Es sei denn, dieser Ausdruck würde primär in einem metaphorischen Sinne gebraucht. Ist das also „nur“ eine Metapher?
„Die Tiere, die sich ständig ausserhalb des Hügels bewegen, gehören durchaus weiterhin zum System und bestimmen seine Eigenschaften.“
Hier wäre meine Frage: „Warum?“
Sorry, ich wollte fragen: „Wie (ist das möglich)?“
Sie gehören ja wohl auch dann noch zum Sozialsystem Ihrer Stadt (oder Familie oder Nation), wenn Sie sie verlassen, einfach, weil Sie darin sozialisiert wurden.
Die Reichweite von Operationen können Sie nicht messen, weil diese nicht irgend einmal abrupt aufhört. Gewiss, ab einer gewissen Entfernung ist der Einfluss von Operationen praktisch Null, aber wer will sagen, wo die Grenze ist?
Das Immunsystem kann kaum zwischen „Aussen“ und „Innen“ unterscheiden. Es reagiert gemäss seinem Programm auf gewisse Stoffe. Das kann ändern. Was heute als „körperfremd“ gilt, kann morgen akzeptiert werden.
Ein System konstituiert sich m.E. nicht in erster Linie aus den Handlungen von zufällig bewussten Individuuen. Es sind im Gegenteil meist die unbewussten Aspirationen, die die Dynamik ausmachen.
> Sie gehören ja wohl auch dann noch zum Sozialsystem Ihrer > Stadt (oder Familie oder Nation), wenn Sie sie verlassen,
> einfach, weil Sie darin sozialisiert wurden.
Das läuft einfach auf die Unterscheidung „zugehörig / nicht-
zugehörig“ hinaus. Bei einer Familie, die sich dank dieser Unterscheidung („Familienmitgled / Nicht-Familienmitglied“) operativ (!) konstituiert, mag das einleuchten. Bei anderen Sozialsystemen ist das nicht der Fall: Wenn ich bspw. eine Organisation wie einen Kindergarten, eine Grundschule, eine weiterführende Schule, eine Uni, eine Firma, etc. verlassen habe, bin ich nicht mehr „Teil = Mitglied“ des jeweiligen Sozialsystem s- schon weil ich zur operativen Dynamik gar nichts mehr beitrage. „Sozialisation“ ist daher kein gutes Kriterium, um Systeme zu bestimmen. Das gilt noch mehr für Nationen oder Städte, die nicht identisch mit „Organisationen“ sind.
Zudem ist stets die Frage, was von einer Person eigentlich zu den jeweiligen „Sozialsystemen“ gehört? Die Konnektivität meiner Synapsen, das Rumoren in den Eingeweiden, das Rasen meiner Gedanken, die Volatiltät meiner emotional states…? All das ist für die Sozialdynamik unerheblich und nicht erreichbar. Und wenn diese Erreichbarkeit gegeben wäre, würde ein Sozialsystem unter den dann entstehenden Komplexitätslasten stante pede kollabieren – schon den bloßen Gedankenströmen von mehr als 7 Milliarden Menschen simultan ausgesetzt zu sein, well – quelle horreur! 🙂
> Die Reichweite von Operationen können Sie nicht messen,
> weil diese nicht irgend einmal abrupt aufhört. Gewiss, ab
> einer gewissen Entfernung ist der Einfluss von Operationen > praktisch Null, aber wer will sagen, wo die Grenze ist?
Ja, mit der quantitativen Messung ist es so eine Sache. Obgleich das bei der elektrisch-olfaktorischen Signalübertragng von sozialen Insekten funktionieren dürfte, also: ab welcher Distanz funktioniert diese Koordinationsweise nicht mehr?
Auch beim Denken wird man bei den eigenen Gedankenströmen und deren zu visualisierenden Gehirnaktivitäten stehen bleiben. Dass sich meine Gedankenströmen mit anderen koppeln oder durch Raum und Zeit fortpflanzen…, nun ja: das verläßtwohl die Grenzen der heutigen Wissenschaft (und landet bspw. in der Esoterik- oder Religionsecke).
Und bei Kommunikationen käme es (zumindest in der Bielefelder Schule) darauf an, daß der Unterschied „Mitteilung / Information“ verstanden und damit als Unterscheidung konstituiert wird, so daß sich eine Kommunikation realisiert . Hierbei käme es auf den Druck zur Handlungskoordination an. So „ent-grenzt“ bzw. „grenzenlos“ wäre das in diesem Fall also nicht.
Einfaches Alltagsbeispiel: Nonverbale Interaktionen funktionieren ab einer gewissen physischen Reichweite nicht mehr (und ich denke, da gibt es sogar Studien, ab welcher Distanz eine solche interaktionelle Koordination zu versagen beginnt).
> Das Immunsystem kann kaum zwischen „Aussen“ und
> „Innen“ unterscheiden. Es reagiert gemäss seinem Programm > auf gewisse Stoffe. Das kann ändern. Was heute als
> „körperfremd“ gilt, kann morgen akzeptiert werden.
„Außen / Innen“ ist natürlich eine Unterscheidung eines sprachbewehrten Beobachters 🙂
Aber wenn mechanisch-physiologische „Barrieren“ ausgemacht werden können
( https://de.wikipedia.org/wiki/Immunsystem), dann läuft das auf eine immunrelative Beobachtungsleistung zwischen Körpereigen (Innen) und Fremdkörper (Außen) hinaus., wenn ich das als Bio-Laie ´mal so formulieren darf (ohne weitere Fachliteratur zu konsultieren).
Wie dieser Immunmechanismus en détail fkt., überlasse ich dabei Fachexperten.
> Ein System konstituiert sich m.E. nicht in erster Linie aus den > Handlungen von zufällig bewussten Individuuen. Es sind im
> Gegenteil meist die unbewussten Aspirationen, die die
> Dynamik ausmachen.
Komplexe dynamische Systeme orientieren sich wohl an Interaktionen (elementar: Beeinflussungen irgend welcher Art, auf höheren Ebenen als irgendwie geartete „Koordinationsweisen“). Wenn es also zu keinerlei „interaktioneller Dynamik“ kommen sollte, passiert m.E. einfach nichts (-> kein komplex-dynamisches System). Das mit dem „Unbewußten“ wäre dabei genauer zu spezifieren: Tierschwärme oder Schwärme von Robotern bspw. funktionieren ja recht gut, ohne irgend etwas Bewußtes / Unbewußtes zu unterstellen. Aber irgend welcher „Aspirationen“ bedarf es dabei nicht: Es reichen einfach systemkonstitutive Operationen (Transfer irgend welcher Signale, Regulierung der physischen Distanz, etc.).
Und auch bei humanen Sozialsystemen kommt es oft nicht auf Bewußtsein / Intentionalität an – es reicht m.E. aus, wenn an solche Handlungen / Kommunikationen irgendwie angeschlossen werden kann. Bewußtes / Intentionales sind dann einfach nur „Zuschreibungsartefakte“ – egal, was jemand dabei gedacht, gefühlt, etc. haben mag (oder nicht). Aber auch in diesem Fall spielen „Aspirationen“ wohl keine Rolle.
Zwei flotte Fragen noch, bevor ich den Rechner für heute ausmache:
* Könnten Sie mir vielleicht einen Einführungstext in die systemdynamische Modellierung empfehlen (u.U. mit vielen Beispielen)? Ich kenne die Systemdynamik nicht wirklich gut, sondern komme ursprünglich (abgesehen von Computer Science) eher aus der dekonstruktiv-postmodernen und systemtheoretischen Luhmann und Co-Ecke.
* Interessant wäre übrigens auch ein Text, der eine Verbindung zwischen Systemdynamik und soziologischer Systemtheorie à la Bielefeld herstellt. Aber ich habe keine Ahnung, ob dieser Brückenschlag jemals erfolgt ist.
Herzlichen Dank und Grüße!
Ich habe in meinem Blog ja schon verschiedentlich kurze Einführungen veröffentlicht, das letzte mal zum Beipsiel „Mit Modellen Komplexität verstehen“ (http://bit.ly/1jNBnnX).
Dort habe ich auf Gene Bellingers insightmaker aufmerksam gemacht, wo Sie viele Quellen finden, wie z.B. http://beyondconnectingthedots.com/
Das Standardwerk ist sicher John Sterman’s Business Dynamics. Aber schauen Sie auch einmal bei der System Dynamics Society vorbei: http://www.systemdynamics.org/what-is-s/
Sie können gewiss irgend eine soziologische Theorie a la Bielefeld mit SD modellieren. Aber SD hat grundsätzlich nichts mit Luhmann und Co zu tun. Es geht vielmehr in erster Linie um die Unterscheidung von allgemeinen Fluss- und Bestandesgrössen in einem System. System Thinking adressiert denn auch nicht eine spezifische Systemtheorie, sondern allgemeines Systemdenken, wie Verzögerungen, Unterscheidung zwischen Prozess- und Wahrnehmungsverzögerungen, Verhaltensmuster wie Systemarchetypen (https://de.wikipedia.org/wiki/Systemarchetyp/wiki/Systemarchetyp) , aging chains, floating goals, hill climbing, etc. Das sind alles SD-Elemente.
Besten Dank für die Hinweise!
Die schaue ich mir die nächste Zeit an. Vielleicht können wir
dann unsere Diskussion diesbzgl. fortsetzen.
Freilich wirkt der Artikel zu „Systemarchetypen“ wie eine sozialwissenschaftliche Veranstaltung „ohne“ Sozialwissenschaften. Und wenn dann noch „die Menschen“ auftauchen… nun ja, dann wackeln Bielefelder oder Dekonstruktivisten doch „sehr unruhig“ auf ihren Stühlchen
herum 🙂
Herzliche Grüße
P. Bormann