Im zehnten und letzten Kapitel von Werner Hartmanns und Alois Hundertpfunds Buch über Digital Kompetenz geht es um Virtuelle Zusammenarbeit und die Fähigkeit, ortsunabhängig in einem Team zusammenzuarbeiten (1).
„Virtuell“ oder „medial“?
Statt «virtuell» möchte ich die Zusammenarbeit lieber «medial» nennen, denn das, was Hartmann und Hundertpfund meinen, ist keineswegs virtuell, sondern sehr real. Aber ohne Zweifel handelt es sich um eine wichtige Kompetenz von Menschen, die in komplexen Systemen handeln und agieren. Alles was Hartmann und Hundertpfund ausführen, wird zumindest innerhalb der «Educational Communities» des Webs längst gefordert und es gibt unzählige Um- und Durchsetzungsideen. Lobenswert sind die Vorschläge für die Schule, die Hartmann/Hundert in diesem Kapitel machen.
Das herkömmliche Schulmodell als Norm
Es gibt jedoch mächtige kognitive und affektive Kräfte, die sich zusammentun und sowohl die Studierenden als auch die Lehrenden glauben zu machen, dass es keine triftigen Gründe gebe, vom Status quo abzuweichen, wie ihn Jeremias Gotthelf in seinem Roman «Leiden und Freuden eines Schulmeisters» 1838 geschildert hat: Die Schule ist ein Ort der Wissensvermittlung, die dadurch stattfindet, dass ein erfahrener Lehrer seinen zahlreichen Schülern erklärt, wie die Welt funktioniert. Diese saugen das Wissen des Älteren dankbar in sich hinein, indem sie still zuhören und eventuell Notizen machen, die sie später zuhause aufarbeiten wollen.
Mir scheint, dass alles daraufabzielt, Strategien zu finden, um zusätzlichen Aufwand zu vermeiden. Solange es keinen Grund für eine aufwändige Intervention gibt, wird sie auf alle Fälle unterlassen. Dabei hilft das Festhalten am herkömmlichen Schulmodell.
Eine spieltheoretische Pattsituation
Ich identifiziere vier Parteien in diesem Spiel: die Studierenden, die Lehrenden, die Schuladministrationen und -behörden sowie die eigentlichen «Kunden», nämlich die Gesellschaft, die Unternehmen, die eingangs erwähnten «educational communities» und eventuell die Eltern (wobei diese in der Hochschullehre eine untergeordnete Rolle spielen).
Es scheint, als hätten Studierende, Lehrende und Schulen ein Stillhalteabkommen verabredet, denn der Einsatz von informationstechnischen Mitteln hätte für alle drei Parteien einen Mehraufwand zur Folge, der keinem Gegenwert entspricht. Vielleicht meinen sie, «Gegenwert» habe etwas mit «gegenwärtig» zu tun, denn ein künftiger Gegenwert wird strikt ausgeblendet. Warum sollte ich mich anstrengen, wenn der Gegenwert allenfalls von der nächsten oder gar erst übernächsten Generation geerntet werden kann?
Die Studierenden
Studierende müssten, um medial zusammen zu arbeiten, sich zusätzlich mit dem Medium und seiner Technik auseinandersetzen. Sie sehen nicht ein, wozu das gut sein soll, wenn es doch auch ohne mediale Zusammenarbeit geht. Kommt dazu, dass das Engagement, bzw. Trittbrettfahrens der individuellen Mitarbeiter transparent wird, was einen unnötigen sozialen Druck verursacht.
Vermeidungsargumente der Studierenden:
- «In einer Hochschule erklärt der Dozent den Studierenden die Fakten seines Gebiets, in dem er Experte ist». Lehrende, die von dieser Rolle abweichen und sich als Lernbegleiter statt als Dozent verstehen, erhalten eine schlechte Evaluation. Solange der Dozent doziert, können die Studierenden konsumieren.
- «Jeder hat seine eigene Lernmethode und sein eigenes Lerntempo». Mit diesem Argument entschuldigt er sich für die Nichtteilnahme an der medialen Zusammenarbeit.
- «Es ist heute bekannt, dass alle Cloudservices von den Diensten ausspioniert werden. Insbesondere mit Google Docs will ich aus personenschutzbezogenen Gründen nichts zu tun haben».
Die Lehrenden
Lehrende müssten sich gleichfalls mit neuen Medien und in diesem Zusammenhang auch mit neuen Lehrmethoden auseinandersetzen. Sie wissen, dass ein Kurs oder gar ein Zusatzstudium – Gott bewahre! – wenig nützt, denn der erfolgreiche Einsatz neuer Medien und Konzepte setzt Routine voraus, die auch in den besten Ausbildungsstrings nicht erworben werden. Routine wird aber nur dann aufgebaut, wenn die zu erlernende Fähigkeit auch täglich geübt und angewendet wird. Das heisst, dass die Lehrenden zu Beginn unsicher sind und vor aller Augen Fehler machen, was ihre Kompetenz und Autorität untergraben könnte.
Nützlicher als alle formalen Ausbildungen und Kurse sind Teilnahme in den eingangs erwähnten «Educational Communities». Das bedeutet, sich an diversen medialen Veranstaltungen einzubringen, wie z.B. der «EdChatDE», der jeden Dienstag von 20 – 21 Uhr auf Twitter stattfindet oder verschiedene cMOOC, die jeweils über mehrere Wochen dauern. Beispielsweise startet am 23. Mai 2016 der COER16, ein Kurs über «Open Educational Resources».
cMOOC sind keine herkömmlichen Kurse. Vielmehr erarbeiten alle Teilnehmer neues Wissen, indem sie sich in einem laufenden ortsunabhängigen Dialog befinden. Das ist problemorientierte mediale Zusammenarbeit pur! Dabei lernen die Teilnehmenden immer neue Personen kennen, die sie an jährlich einem oder zwei onsite-Events, wie z.B. den EduCamps https://educamps.org/ auch persönlich kennen lernen.
Vermeidungsargumente der Lehrenden:
- «Wer bezahlt mir diesen immensen Zusatzaufwand? Ich mache das ja nicht zum Vergnügen!» (sollten Sie aber, denn es macht toll Spass!).
- «Die Schule ist ein Ort der Wissensvermittlung, daher muss ich den Studierenden erklären, wie sie ein Sachproblem lösen können». Jeder Dozent kann ohne Vorbereitung locker 2-3 Stunden über sein Gebiet reden. Dabei wird er nur selten von Studierenden unterbrochen. Diese Art von Unterricht ist für beide Parteien die bequemste. Es gibt keinen Grund, davon abzuweichen.
- «Wir haben einen vorgegebenen Lehr- oder Modulplan. Da können wir nicht noch mediale Kompetenzen vermitteln».
Die Schulen
Schuladministrationen und -behörden sind in ähnlicher Lage wie die Lehrenden. Der Einsatz von modernen Medien verursacht insbesondere finanziellen, aber auch zeitlichen Zusatzaufwand und Unsicherheiten. Der damit einhergehende Komplexitätszuwachs wird meist noch negativ gewertet, obwohl Komplexität auf alle Fälle eine Art Reichtum bedeutet.
Vermeidungsargumente der Schulen:
- «Handies gehören im Unterricht abgeschaltet und sind verboten».
- «Damit die Schüler nicht in Versuchung kommen, während des Unterrichts ins Facebook zu schauen, installieren wir kein WLAN».
- «Es fehlt an allen Ecken und Enden an finanziellen Mitteln für die Informatik».
Der Umbruch muss bei den Studierenden beginnen
Unter den vielen Schulen, Lehrenden und Studierenden gibt es jedoch immer einzelne, die verstehen, dass sie sich keinen Dienst erweisen, wenn sie Vermeidungsstrategien fahren. Der OECD Bericht «Preparing Teachers and Developing School Leaders for the 21st Century – LESSONS FROM AROUND THE WORLD» gibt viele positive Beispiele. Sie alleine reichen jedoch nicht. Die vierte Partei, allen voran die Unternehmen, picken sich diejenigen Bewerber heraus, die unter anderem auch über gute mediale Kollaborationsfähigkeiten verfügen. Die Studierenden bilden denn auch die hoffnungsvollste Partei, denn sie würden am ehesten von einer neuen Schulsicht profitieren. Dann müssten vielleicht auch die Lehrenden nachziehen.
Der erwähnte OECD Bericht drückt es so aus:
Teachers need to be able to work in highly collaborative ways, working with other teachers, professionals and para-professionals within the same organization, or with individuals in other organizations, networks of professional communities and different partnership arrangements, which may include mentoring teachers. Last but not least, teachers need to acquire strong skills in technology and the use of technology as an effective teaching tool, to both optimize the use of digital resources in their teaching and use information-management systems to track student learning.
(1) Werner Hartmann, Alois Hundertpfund
Digitale Kompetenz
Was die Schule dazu beitragen kann
ISBN Print: 978-3-0355-0311-1
ISBN E-Book: 978-3-0355-0372-2
- Auflage 2015
Alle Rechte vorbehalten
© 2015 hep verlag ag, Bern
Leider nur zu wahr. Noch ein schönes Killerargument: WLAN-Strahlung gefährdet ihre Gesundheit ?
Den Zustand sehr gut, ja hervorragend – und langatmig – beschrieben. Ich mach‘ das viel viel kürzer – und darum für die Betroffenen kaum goutierbar.
Ist wohl wahr zur Zeit. Aber ich glaube, in 10, 15 Jahren sieht das alles ganz anders aus. Da würde ich mir jetzt nicht zu viele Sorgen machen. Eine neue Lehrer und Schulleiter Generation wird sich nicht mehr erinnern können, dass man jemals ohne digitale Unterstützung Schule gegeben hat.
Hmmm, warum sollte eine neue Generation Mehraufwand in Kauf nehmen? Digitale Unterstützung scheut die Generation der heute 25jährigen ja wie der Teufel das Weihwasser, weil zu aufwändig (sie führen z.T. noch eine Papieragenda, weil „sich der Aufwand für eine elektronische Agenda nicht rentiert“, wie sie mir sagten). Erst mit dem Internet of Things könnte sich das ändern. Und es geht ja nicht so sehr um digitale Unterstützung als um die Überwindung des Dozenten-Hörer-Schulmodells, ob mit oder ohne digitale Unterstützung. Heute unterweisen Lehrer von vorgestern Menschen, die übermorgen Probleme lösen müssen, die noch nicht einmal morgen bekannt sein werden in Wissen, das von gestern stammt. Dieser Gap zwischen dem, was man heute weiss und dem, was morgen benötigt wird, wird immer grösser, tut aber erst dem Profi weh, der nicht mehr in der Ausbildung steckt. Das Problem kann im Schulsystem gar nicht erkannt werden. Das ist mein Dilemma.
Ah, das ist gut. Dank Deinem Kommentar habe ich hier einen Gedanken entwickelt, den ich für eine systemische Darstellung des Problems brauchen kann. Danke für Deinen Kommentar! 🙂