Zunahme von Komplexität bedeutet insbesondere, dass unsere gesellschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Institutionen und Prozesse immer vernetzter sind und nicht mehr von einander getrennt werden können. Das fällt einem z.B. bei der Lektüre der Tagespresse auf:
Auf Seite vier meiner Tageszeitung lese ich, dass die Messergebnisse über der Antarktis dieses Jahr nicht besonders gut sind: Das Loch in der Ozonschicht vergrössert sich gefährlich. Beim Weiterlesen komme ich von den Chemikern der Stratosphärezu den Generaldirektoren zweier grosser Chemiefirmen. Diese wollen ihre Produktionverfahren ändern, um die «harmlosen» Fluorchlorkohlenwasserstoffe zu ersetzen, die des Verbrechens gegen die Ökosphäre angeklagt sind….Am Ende des Artikels widersprechen die Meteorologen jedoch den Chemikern und sprechen von zyklischen Schwankungen, die unabhängig von menschlichen Einflüssen sind. Nun wissen die Industriellen nicht mehr, was zu tun ist. Auch die Staatsoberhäupter zögern.1
Die Chemie der Stratosphäre ist zwar sehr spannend, hat aber für sich genommen wenig Aussagekraft. Im Gegenteil: Beim isolierten Studium der Prozesse, die in der Atmosphäre ablaufen, könnte man doch schnell den Eindruck gewinnen, als handle es sich um etwas real Objektives und nicht um einen Zusammenhang, wie er sich unseren beschränkten Sinnesorganen präsentiert und durch unser Gehirn interpretiert wird. Und doch ist das isolierte Studium notwendig, um die Debatte überhaupt zu verstehen.
Ein anderes Beispiel ist die (individuelle) Zeitmessung. Vordergründig ist …
… eine Armbanduhr eine Nebensächlichkeit und völlig in unser Leben integriert. Aber dahinter steckt eine hochkomplexe und vernetzte Sache. Die Technologie nutzt mittlerweile Erkenntnisse aus der Relativitäts- und Quantentheorie, das Konzept ist facettenreich und enthält gesellschaftliche, marketingtechnische, modische und andere Kapitel. Dinge wie Winter- und Sommerzeit, EU-Normen und Arbeitszeiten müssen verwaltet werden. Und schliesslich vermittelt eine Armbanduhr eine Werthaltung. Sie sagt etwas über den Träger aus und trägt für viele zur Lebensqualität bei.2
Noch immer teilen die Vertreter der (westliche) Zivilisation die Welt in Schulfächer auf. Für mich ist das nicht modern. Modern wäre eine holistische Sicht, die die naturwissenschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, sprachlichen, globalen und gesellschaftlichen Dimensionen der Dinge integriert. Nur so hätten wir eine Chance, unser Verständis der Komplexität der Welt anzunähern.
Einmal mehr fokussieren die Pädagogen und Didaktiker auf die Frage, wie die Kinder lernen und vergessen dabei die moderne Dimension, was sie lernen sollen. Sie diskutieren das Versagen der Schule, weil sie bei den Schülern Angst und damit Lernhemmungen erzeuge, würden aber auch in einer angstfreien Schule das Wissen offenbar weiterhin in Fächern vermitteln. Ich bin je länger desto mehr besorgt, wie wenig System- und Strukturwissen unsere Entscheidungsträger haben. Sie rühmen ihre Sozial- und Kommunikationkompetenzen, sind aber beispielsweise nicht in der Lage, über unbeabsichtigte Neben- und Fernwirkungen ihrer Entscheidungen zu reflektieren.
Im Projektmanagement wird heftig gestritten, welchen Kundennutzen man mit einem Sprint erreicht oder ob ein dynamikresistentes Nest eingerichtet werden soll. Weise ich darauf hin, dass Projektmanagement noch andere Dimensionen hat, als bloss diese eher technischen, methodischen oder allenfalls organisatorischen Fragen, dann zeigt man mir stolz, dass man sich gewiss auch über Softfaktoren und Kommunikation Gedanken gemacht habe. Schon nur der Begriff „Softfactors“ ist überaus uncool, sprich unmodern. Es geht vielmehr darum, dass Projektmanagement nicht auf eine Dimension reduziert werden darf, sondern gleichzeitig aus wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, naturwissenschaftlicher, sprachlicher, historischer, anthropologischer, technischer, methodologischer, epistemologischer, kognitiver und philosophischer Sicht betrachtet wird. Dazu braucht es viel Wissen und ein tiefes Systemverständnis.
1Latour, Bruno. Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Frankfurt a.M. 2008. S. 7
2 Addor, Peter. Projektdynamik – Komplexität im Alltag. Liebig Verlag, Frauenfeld 2010. S. 8f
… großartig! da gibt es nichts hinzuzufügen. wir hoffen weiter auf die sytemtheorie und ihre praktische anwendbarkeit!