Wir haben nur fünf Sinne, mit denen wir unsere Umwelt wahrnehmen können: der visuelle, der auditive, der taktile, der gustatorische und der olfaktorische Sinn. Während die beiden letzteren wenig ausgeprägt sind, geschieht die visuelle Wahrnehmung wohl über den am höchsten entwickelten Sinn. Sätze, wie „das glaube ich erst, wenn ich es mit eigenen Augen sehe“, zeigen, wie sehr wir uns auf unsere visuelle Wahrnehmung verlassen. Aber wie die anderen vier Sinne, ist leider auch der visuelle Sinn wenig zuverlässig.
Berechnete Sicht
Wenn Sie in Ihrem PKW sitzen und durch die Windschutzscheibe das Verkehrsgeschehen vor Ihnen beobachten, meinen Sie, zu sehen, was tatsächlich auf der Strasse passiert. Stellen Sie sich nun einmal vor, der PKW hätte nur ein Fenster, nämlich das mit der Windschutzscheibe. Diese wäre aber nicht aus Glas. Vielmehr bestünde sie aus einem lichtempfindlichen Material, in dem je nach Helligkeit und Farben elektrische Ströme entstehen, die durch ein Kabel abgeleitet werden. Das Kabel führt in einen Rechner, der die Ströme analysiert und daraus ein Bild errechnet, das den optischen Gegebenheiten auf der Strasse entspricht. Das Bild wird auf einen Bildschirm geworfen, der vor ihrer Nase an der Windschutzscheibe klebt, die aber eben undurchsichtig ist. Sie sehen auf dem Bildschirm nur das Bild, das der Rechner produziert und das ist angeblich das, was auf der Strasse passiert. Würden Sie mit diesem PKW fahren? Auch schneller, als 20 km/h?
Im Prinzip macht das jede digitale Kamera. Sie errechnet aus dem Bild, das in das Objektiv fällt, digitale Informationen, die mit entsprechenden Informatikmitteln wieder in ein Bild auf einem Bildschirm umgewandelt werden können. Wer meint, das Bild auf dem Bildschirm entspreche irgendwie der Realität, täuscht sich. Jeder Kamerahersteller hat so seine Algorithmen, die er in seinen Produkten einbaut, damit sie ein Bild errechnen. Deshalb sieht dieselbe Fotografie ganz unterschiedlich aus, wenn sie mit unterschiedlichen Kameras gemacht wurden. Allen digitalen Kameras ist aber gemeinsam, dass sie die Realität bloss nachrechnen.
Das dürfte eine der wenigen Blumenaufnahmen von mir sein. Blumen- und Tierfotografien gehören für mich in Bestimmungsbücher. Es geht hier jetzt nicht darum zu entscheiden, welches der beiden Blütenfotos besser ist. Es geht nur darum zu zeigen, dass verschiedene Kameras verschiedene Fotografien errechnen. Ich selber habe die Blüte mit meinen Augen noch einmal anders gesehen, als die beiden Kameras. So, wie ich die Blüte sehe, gibt sie keine Kamera wieder. Jeder Mensch wird die Blüte anderes wahrnehmen. Wie sie wirklich ausschaut, werde ich nie erfahren!
Unsere Wahrnehmung errechnet Bildinformationen, die in einer uns noch nicht ganz verständlichen Form gespeichert werden. Nachdem die Licht- und Farbinformationen der Welt da draussen in der Netzhaut in elektrische Signale verwandelt wurden, werden sie nie wieder zu einem Bild zusammengesetzt, das Sie anschauen können. Die Nervenimpulse stimulieren irgend ein neuronales Korrelat in ihrem Bewusstsein, so dass Sie den Eindruck haben, Sie sähen ein Bild. Und Sie können nie wissen, ob das, was Sie zu sehen meinen, irgend etwas mit dem „da draussen“ zu tun hat. Was Sie zu sehen meinen, ist allenfalls ein Modell der Wirklichkeit. Die Informationen, die vom Auge kommen, vermengen Sie nämlich mit Gefühlen, Überzeugungen und Erinnerungen, die die „wahren Bilder der Wirklichkeit“ schlimmer verzerren, als ich es zuweilen mit meinen Fotos mache.
Bearbeitete Fotografien
Seit ich keiner Berufstätigkeit mehr nachgehe und bevor Corona die Mobilität etwas einschränkte, reiste ich sehr viel. Klar, dass ich meine Eindrücke fotografisch festhalten wollte. Bald war mir das Mobilephone als Kamera zu wenig und ich kaufte mir eine „richtige“ DSLR. Manchmal schoss ich dann zufällig ein Bild, das über das reine Dokumentieren meiner Eindrücke und Erlebnisse hinausging. Das erregte meine Aufmerksamkeit und ich fragte mich, was das Besondere an diesem Bild ist und warum es sich von reinen Dokumentationsfotos unterscheidet. Ich begann zu experimentieren und versuchte Bilder zu machen, die meine Handschrift tragen und über Ferien- und Familienerinnerungen hinaus gehen. Das sind meistens Bilder, die stark bearbeitet und verfremdet, in neuen Kontext gestellt und völlig neu komponiert oder sogar total künstlich erzeugt sind.
Es gibt Menschen, die mich der Lüge bezichtigen und behaupten, ich würde Fake-Bilder verbreiten. Sie können sich dank der Kraft des visuellen Sinns einfach nicht vorstellen, dass eine Fotografie „gefälscht“ sein darf. Wenn ich beispielsweise einen Sonnenuntergang fotografieren will, beim Warten auf den richtigen Moment zufällig eine vorbeifliegende Ente erwische und diese dann später vor die blutrote Scheibe der untergehenden Sonne montiere, dann habe ich das resultierende Bild effektiv nicht „geschossen“, aber was ist der Unterschied dazu? Die Ente flog vielleicht tatsächlich vor der Sonne vorbei, nur dass ich in diesem Augenblick zufälligerweise nicht geknipst habe. Warum soll ein Bild, das aufgrund von Geduld, Geschicklichkeit und Zufälligkeit zustande gekommen ist, mehr Wert sein als ein Bild, das zeigt, wie es hätte gewesen sein können?
Ähnlich ist es bei einem völlig künstlichen Bild. Beispielsweise nehme ich ein paar quadratische farbige Flächen, verzerre sie perspektivisch, schneide aus der einen einen Torbogen und aus der anderen ein Fenster aus und setze sie so zusammen, dass der Eindruck einer Strassenszene entsteht. Das ist ein Bild, das wir anschauen können und das in uns etwas bewegt, ganz so, wie es ein gemaltes Bild eines Kunstmalers tut.
„No Filter“ ist eine Illusion. Jede Kamera ist eine Art Photoshophardware. Es gibt Fotografen, die ihre Fotos explizit mit „no Filter“ markieren und oft noch stolz darauf sind. Dabei gibt es nichts langweiligeres, als unpersönliche SOOC-Bilder ((Straight out of the Camera). Die Art und Weise wie einer seine Fotos zuschneidet, bearbeitet und präsentiert, sagt etwas über seine Persönlichkeit aus, während das Rohbild, wie es aus der Kamera kommt, bei jedem Fotografen gleich ist, wenn er zur gleichen Zeit am selben Ort stand.
Ich will die Welt nicht zeigen, wie sie ist. Das überlasse ich Reportern und unzähligen Ferienfotografen. Ich will neue Bilder erschaffen, die etwas von mir erzählen. Ich will nicht, dass meine Kamera oder mein Kamerahersteller mein Bild machen, ich will das Bild selber machen. Jeder Schriftsteller erfindet in seinen Romanen neue Welten, ohne deswegen als Lügner bezichtigt zu werden. Auch viele Maler machen Bilder von Welten, die es nur in ihrem Kopf gibt. Das wird auch akzeptiert. Warum sollte man nicht auch mit Fotografien Bilder von Welten machen dürfen, die es nur im Kopf des Künstlers gibt?
Die Macht der Bilder
Meine Frage ist anders: was will ich mit meinen Bildern erreichen oder besser, was wollen meine Bilder von mir und warum lassen sie mich nicht los?
Der US-amerikanische Kinsthistoriker W.J.T. Mitchell veröffentlichte 2005 ein Buch mit dem Titel What do picture want? und knüpft damit an sein 1994 erschienenes Werk Bildtheorie an. Mitchell spricht nicht nur von Fotografien und gemalten Bildern. Auch verbale Bilder, Bilder im Kopf, Memen, Symbole, Icons oder Verkehrsschilder sind Bilder, mit denen sich Mitchell beschäftigt. Er postulierte in den frühen Neunzigern den Pictorial Turn, also die Hinwendung zum Bild als Basis für wissenschaftliche Rationalitäten.
Pictorial Turns gab es schon immer in der Geschichte, z.B. als sich die Isrealiten vom Gebot „Du sollst dir kein Bildnis machen“ abwandten und das Goldene Kalb anbeteten, das sie sehen konnten. Die katholische Kirche hat Bilder in Hülle und Fülle weiter getragen, bis dass sie Luther wieder herunterriss und einen Linguistic Turn einläutete. Typischerweise gilt Luther auch als Schöpfer der modernen deutschen Sprache.
Auf die Frage angesprochen, wie Bilder Macht über uns haben können, sagt Mitchell etwas sehr Interessantes:
Ich weiß, daß meine Frage nach dem Begehren der Bilder ein bißchen frevelhaft und unmöglich klingt. Sie beruht auf der Zurückweisung eines gewissen kritischen Automatismus, nämlich des Anspruchs, wie Bruno Latour das ausdrückt, zwischen belebten und unbelebten Dingen … klare Unterscheidungen treffen zu können. Bilder sind großartige Beispiele für das, was Latour als … „hybride Objekte“ [bezeichnet], die auf der Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion, Tatsache und Glaube schwanken. Bilder sind sowohl »autonom« als auch »konstruiert«, gefunden und gefertigt, Imitate und Produkte.
Interview: Was wollen Bilder?
Über Bruno Latour habe ich hier schon verschiedentlich geschrieben, z.B. im Artikel Manchmal kommt mir die Natur und manchmal ist es Gesellschaftszwang. Latour ist ein Soziologe, der die Trennung von Gesellschaft/Zivilisation einerseits und Natur andererseits kritisiert. Genau das tun wir aber meistens beim Fotografieren. Wir meinen, mit der Kamera die Natur einfangen zu können und wollen diese möglichst rein halten. Deshalb gilt für viele das unbearbeitete Bild mehr als das bearbeitete. Auf der anderen Seite werden diese Naturfotografien in gesellschaftliche Institutionen hineingetragen und dort gewürdigt und kritisiert. Buno Latour glaubt: wenn man Natur und Gesellschaft so prinzipiell trennt, dann entwickeln die Bilder in der Lücke dazwischen ein Eigenleben. Sie sind nicht mehr reine Natur, passen aber auch nicht so recht in die sterilen Räume der Gesellschaft. Die Bilder machen sich selbstständig und üben Macht auf uns aus. Bilder in der Werbung beeinflussen unser Konsumverhalten, in Bahnhöfen und Flughäfen steuern Icons die Bewegung der Passagierströme, die bildgebenden Verfahren in der Medizin bestimmen unsere Therapien (um nicht zu sagen „unsere Gesundheit“) und Fotos in der Presse tragen wesentlich zur Grundstimmung der Gesellschaft bei. Bilder haben es in sich!