Eine neue Struktur zu bilden und zu integrieren stösst immer auf Widerstände. Das ist die eigentliche Schwierigkeit in Migrations- und Intergationsprojekten. Ein System hat eine gewisse Trägheit gegenüber einer neuen, systemweiten Struktur.
Das Neue wird zunächst unterdrückt
Abteilungs- oder gar unternehmensübergreifende IT-System- oder Datenmigrationen und -integrationen stellen immer Machtverteilungen zur Disposition. Aber es sind nicht einmal immer direkte Widerstände gegen die zu integrierende Struktur. Es können auch schlecht angepasste Prozesse sein, die irgend eine administrative Angelegenheit verzögern, die für die Integration benötigt würde. In einem aktuellen Projekt musste ich z.B. Telefonkonferenzen organisieren und brauchte dazu eine PIN, die von starren Konzernprozessen vergeben wird, die wiederum von anderen Prozessen abhängen. Es fehlen immer irgendwelche Daten, so dass ich die PIN niemals auf den Termin organisieren konnte, auf den ich sie benötigte. Die Tatsache, dass gegen eine neue Struktur Widerstände erwachsen, haben wir schon bei der Entstehung der Bénard-Zellen gesehen (s. Komplexität revisited). Aufsteigende Flüssigkeitspakete werden gebremst und unterdrückt. Die Implementation kann quasi als Kampf zwischen dem Projekt und dem System, welches die neue Struktur tragen soll, angesehen werden.
Wer hat, dem wird gegeben werden
Peter Senge hat einen Archetypen für diese Situation präsentiert. Das dem Archetyp zugrunde liegende Prinzip wird zuweilen auch etwa als „Matthäuseffekt“ bezeichnet: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, daß er Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat.“ (Matth. 25,29). Je mehr Ressourcen einer besitzt, desto mehr Erfolg hat er und desto mehr Ressourcen kann er anhäufen. Stellen Sie sich vor, zwei Personen hätten genau gleich viel Geld, nicht zu viel. Beide müssen möglichst lange von ihrem Geld leben und haben keine weiteren Einkünfte, können aber paar Geldeinheiten in Aktien anlegen. Der eine hat vielleicht mehr Glück als der andere und gewinnt 10 oder 20 Geldeinheiten mehr, die er wiederum anlegen kann. So ist es möglich, dass der eine zu grossen Reichtum gelangt, während der andere nach paar Monaten sein Geld aufgebraucht hat. Senge nannte den Archetypen „Success to the successfull“1.
Erfolg den Erfolgreichen
William Braun stellt “Success to the successful” so dar2:
“Allocation to A instead of B” ist ein wenig salopp formuliert. Sicher meint Braun “Allocation of Resources to A instead of B”. Dann wäre es eine Flussgrösse, die einen Ressourcenbestand nährt. Sie hängt ab von den beiden Successgrössen und muss mit den beiden Ressourcenbeständen verbunden sein. Das ist offenbar nicht die Charakteristik einer Flussgrösse, die die beiden Ressourcenbestände unabhängig von einander speist. Zudem klingt „Resources to A“ auch eher nach einer Flussgrösse und ist wohl dasselbe wie “Allocation of Resources to A instead of B”. In Anbetracht dieser Unklarheiten schlage ich vor, den Archetypus „Success to the Successful“ wie folgt darzustellen, so dass wir ihn zur Erklärung der typischen Schwierigkeiten in einem Migrations- und Integrationsprojekt heran ziehen können (klicken Sie auf die Figur zu ihrer Vergrösserung):
Ressourcen sind nicht automatisch auch Erfolg, können aber mehr oder weniger effektiv in Erfolg konvertiert werden. Ressourcen könnten z.B. Marktanteile sein, die noch nicht automatisch Gewinn bedeuten müssen. Wenn ineffizient produziert wird, kann der Erfolg trotz hoher Marktanteile ausbleiben. Die Art und Weise, wie sie ihre Ressourcen in Erfolg verwandeln ist der Hebel, den die beiden Parteien im Kampf um die Implementation der neuen Struktur haben. In der den beiden Feedbackschlaufen gemeinsamen Variablen werden die Erfolgsgrössen miteinander verglichen. Zwar hat IBM absolut gesehen sicher einen höheren Gewinn als z.B. HP. Das heisst aber noch nicht, dass IBMs Geschäftserfolg automatisch höher ist, als derjenige von HP. Wir dürfen die absoluten Erfolgsgrössen nicht direkt miteinander vergleichen, sondern müssen sie in Relation zu den jeweiligen Zielen von A und B stellen.
Wie führt man neue Strukturen ein?
Die linke Feedbackschlaufe ist das Projekt, das versucht, eine neue Struktur einzuführen. Je besser das gelingt, desto mehr Bedeutung kommt der neuen Struktur zu und desto mehr Macht hat das Projekt, das System durch die Struktur zu versklaven (im synergetischen Sinne gemeint). Der aktive Part des Projekts liegt in der Motivation der Systemteile, die neue Struktur zu stärken. Das entspricht der synchronen Konvektion in der Bénard-Flüssigkeit. Solange der Integrationsgrad noch nieder ist, steht dem Projekt ein alternativer Hebel zur Verfügung. Tauchen Hürden auf, kann es versuchen, das Hindernis durch Improvisationen mit anderen als den geplanten Mitteln und auf anderen Wegen zu umgehen. So bat ich z.B. einen Kollegen um seine Telefonkonferenz-PIN, bis ich meine erhalten habe. Zwar merkt dabei der Kunde, dass es irgendwelche Schwierigkeiten mit der inneren Organisation gibt, aber das war nicht zu vermeiden. Die Übergewichtung der Erfolgschancen kommt dadurch zustande, dass das Projekt willentlich und planerisch an’s Werk geht, während der bremsende Charakter des Systems unabsichtlich und zufällig ist. Solange die neue Struktur noch nicht manifest ist, haben die bestehenden Strukturen genügend normative Kraft, um die Einführung von Neuem in Frage zu stellen.
1Peter M. Senge. Die Fünfte Disziplin – Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Klett-Cotta. Stuttgart 1996.
2William Braun. The System Archetypes. 2002