Bei einem Ohr herein und beim anderen wieder hinaus

Am gestrigen EdChatDE auf Twitter liess ich mich zu der Behauptung hinreissen, dass Hörer (Lernende, Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten, Teilnehmerinnen und Teilnehmer, etc.) nicht lernen können, solange ein Wissender (Lehrender, Dozentin/Dozent, Lehrerin/Lehrer, Sprecherin/Sprecher, Vortragende/Vortragender, etc.) redet. Es wurde prompt reagiert. Die Tendenz lief Richtung Empörung.

Niemand kann zuhören und gleichzeitig eigenen Gedanken nachhängen

Jemand schreibt: „Ich habe andere Erfahrungen mit äußerst anregenden Rednern gemacht“. Klar, das gibt’s, und es ist ein Genuss, ihnen z.B. an einem Kongress oder an einem TED zuzuhören. Wenn der Vortrag jedoch wirklich so gehaltvoll ist, dann lohnt es sich, z.B. über jeden dritten Satz etwas länger nachzudenken. Das ist aber leider unmöglich, weil einem der Sprecher nicht lässt. Er redet weiter. Dass ich nicht nachdenken kann, liegt nicht an der Art des Vortrags, sondern daran, dass ein Satz den nächsten jagt.

Wiederholung ist Routine

Glauben Sie nicht, dass es gerade so genussreich ist, die Rede auf Youtube zu hören? Wenn die Rede so gut ist, wäre es doch eine Verschwendung, wenn sie nur einmal gehalten würde. Aber warum muss ein brillianter Redner seine Rede mehrmals wiederholen? Einmal genügt doch. Danach können sie alle, die sie verpasst haben, auf youtube anhören.

In einer Bildungsstätte ist es ähnlich. Ein Lehrer muss jedes Jahr einer neuen Klasse denselben Stoff beibringen. Oft gibt es pro Jahrgang sogar mehrere Klassen. Ich muss jeweils innerhalb einer Woche denselben Stoff in drei Klassen behandeln. Wäre es nicht vernünftiger, den Stoff einmal zu erzählen, davon ein Video zu produzieren und dieses den anderen Klassen zu verteilen?

Eine Frage der Lerneffektivität

Das hat noch einen Vorteil: Während ein Vortragender redet, können die Zuhörer nicht darüber reflektieren, wenn sie das Folgende nicht verpassen wollen. Also müssen sie das Gehörte nachträglich verarbeiten. Kommen Fragen auf, ist der Referent schon wieder weg. Besser also, die Zuhörer hören sich die Rede vorgängig an, verarbeiten, was sie gehört haben und reflektieren darüber. Beim Zusammentreffen mit dem Referenten können sie ihre Fragen stellen und mit dem Referenten eine fruchtbare Diskussion führen. Auf diese Weise lernen sie viel mehr, als wenn sie einmal zuhören und dann wieder nachhause gehen.

Sprecher-Wisser
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Dazu kommt, dass nicht alle brilliante Redner sind. Zu allem, was in üblichen Bildungsstätten erzählt wird, gibt es auf youtube bereits Videos, die den Stoff bedeutend besser präsentieren, als die betreffende Lehrperson es kann. Warum soll sie die Zeit nicht nutzen, um das, was die Lehrenden im Video nicht verstanden haben, zu erklären? Das bedingt aber, dass sie vorgängig einen Fragenkatalog erstellt haben und ihr Unverständnis in der Präsenz offenbaren. Das setzt eine gewisse Reife voraus, die erfahrungsgemäss auch Erwachsene nicht immer aufweisen.

Wer will das schon?

Auf der anderen Seite ist dieses Lernmodell auch für die Lehrperson anspruchsvoller. Es ist leicht, Reden zu halten, die man schon x Mal gehalten hat. Das Timing lässt sich so auch leicht kontrollieren. Es ist ungleich schwerer, spontan auf vorher nicht bekannte Fragen zu antworten und während Übungen Schwächen zu erkennen und unmittelbar auf diese einzugehen.

Da das herkömmliche Modell für beide Seiten einfacher ist, besteht kein Bedarf, es zu verlassen.

2 Antworten auf „Bei einem Ohr herein und beim anderen wieder hinaus“

  1. Diesen Satz fand ich schön: „Wenn der Vortrag jedoch wirklich so gehaltvoll ist, dann lohnt es sich, z.B. über jeden dritten Satz etwas länger nachzudenken.“ Der Umkehrschluss könnte nämlich zu denken geben.

    Das bedingt aber, dass sie vorgängig einen Fragenkatalog erstellt haben und ihr Unverständnis in der Präsenz offenbaren
    Das Offenbaren in Präsenz ist eine Möglichkeit. Im einfachsten Fall können unklare Punkte dem Vortragenden (Lehrenden/…) jedoch auch vor der Präsenzphase schon mitgeteilt werden, so dass er sich sogar darauf vorbereiten kann. #Just-in-Time_Teaching. Geht natürlich mit E-Assessments auch beliebig komplex…

  2. Ja das klingt nach der Schule/Uni der Zukunft! Ich würde das absolut unterstützen und denke, dass der herkömmliche Kontaktunterricht zumindest an Hochschulen ausgedient hat. Da gibt’s einfach viel zu viel Overhead. Und ich kann nicht vorwärts spulen, wenn ich etwas schon kenne oder es mich einfach nicht so interessiert (dafür kann ich in der gleichen Zeit ein ähnliches Thema lernen, das mich mehr interessiert). Wenn’s an der Selbstdisziplin oder Reife fehlt, ist das ein Problem des Studierenden. Diese sollte man dann mit einem geeigneten System aussortieren können (gut gemachte Tests, vielleicht Praxisprojekte), so dass die Qualität des Diploms nicht verringert wird. Das ist wahrscheinlich das grösste Problem.

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