Die Kompetenz, mit Wissen relevantes Wissen zu kreïeren

Das Buch „Digitale Kompetenz“ von Werner Hartmann und Alois Hundertpfund beleuchtet zehn zentrale Fähigkeiten, die in der komplexen Welt des 21. Jahrhunderts unumgänglich sind. Ich werde jedes Kapitel des Buches zur Grundlage eines Blogartikels wählen und damit jedes Mal eine Kernkompetenz im Umgang mit Komplexität beschreiben.

Solange es noch Entscheider gibt, die unter dem Paradigma sozialisiert wurden, dass Ausbildung Wissenserwerb sei, wendet sich das Buch (noch) eher an Hochschulen und Unternehmen, die ihre Mitarbeiter in selbstbestimmtem Lernen ausbilden müssen.

Tiefgreifende Veränderungen innerhalb einer Generation

Haben Sie die Meinung, dass man heute nichts mehr wissen muss, weil man alles im Internet – gemeint ist das „Worldwide Web“ – nachsehen kann? Oh, wenn es doch so einfach wäre!

Der Unterschied von heute zu der Zeit vor dem Web besteht nicht bloss darin, dass es heute viel mehr Informationen gibt, die erst noch jedem Menschen zugänglich sind. Der Unterschied besteht vor allem darin, dass

  1. jede Person beliebige Informationen produzieren und verbreiten kann,
  2. sämtliche jemals produzierten Informationen dank billigem Speicherplatz bestehen bleiben,
  3. Zugriff zu Informationen über unzählige Kanäle und Informationsdienste möglich ist, deren Wirkungen auf die transportierten Informationen nicht transparent sind.

MitmachwebWas hat das für Konsequenzen? Aus der Tatsache, dass jeder seine Meinung im Web publizieren kann folgt z.B., dass es im „Mitmach-Web“ keine zentralen Autoritäten und Redaktionen mehr gibt, die Konventionen festlegen. Das bedeutet aber, dass die Web-Nutzer die Kompetenz haben müssen, Informationen zu beurteilen und zu selektieren.

Lernbegleiter kennen Plattformen und Kanäle

Informationskompetenz bedeutet in dieser Hinsicht, Informationen auf ihre Relevanz und Bedeutung einschätzen zu können, sie kritisch zu hinterfragen und im Vergleich verschiedener Quellen deren Qualität zu beurteilen. Sich skeptisch mit den gefundenen Informationen zu befassen, unabhängige Quellen und Informationsplattformen zum selben Thema zu konsultieren und zu vergleichen, beansprucht mehr Zeit, als wenn es zum Thema weniger Informationen gäbe. Vor allem beansprucht es mehr Kenntnisse und Wissen.

communication-technology-in-societyZu der Informationsflut kommt eine zunehmende Anzahl von Kanälen und Plattformen, deren Bedeutung sich rasch verändert.

Informationskompetenz als Lernziel erfordert Kenntnis und Erfahrung im Umgang mit den verschiedenen Plattformen. Lernbegleiter müssen digitale Plattformen und Kanäle kennen und insbesondere Erfahrung mit den gängigsten Social Media haben.
Das Web ist zum hauptsächlichsten Lern- und Arbeitsraum der heutigen Zeit geworden. Im Web müssen wir ständig Informationen und Plattformen auswählen. Jean-Paul Sartre soll darauf hingewiesen haben, dass uns Freiheit dazu verdammt, ständig eine Wahl treffen zu müssen. Das geht aber nicht ohne Wissen.

Bildungsinstitute vermitteln Kompetenzen, Wissen muss sich jeder selbst aneignen

Es ist paradox: je mehr Wissen herum liegt, desto mehr muss man wissen, um das relevante Wissen zu finden. Wissen vermehrt sich autokatalytisch.

Breites Allgemeinwissen und tiefes Fachwissen ist heute notwendiger denn je. Bildungsinstitutionen wandeln denn auch auf einem gar schmalen Grat zwischen ausschliesslicher Vermittlung von Wissen, das meist vor Beendigung des Lehrgangs zu veralten droht, und Befähigung von Kompetenzen, wie z.B. der Informationskompetenz.

Studien_InformationsflutNatürlich verfliessen Wissen und Kompetenzen. Beispielsweise ist das Beherrschen eines Musikinstruments eine Kompetenz. Aber ohne Wissen, z.B. über den Bau des Instruments oder über Musiktheorie, lässt sich diese Kompetenz nicht sinnvoll erwerben.

Nichtsdestotrotz liegt das Aneignen von Wissen in der Verantwortung jedes Lernenden. Das ist ihnen nur noch nie gesagt worden. Heute ist die Aufgabe der Schule nicht mehr Vermitteln von Wissen, sondern die Befähigung zum selbstbestimmten Wissenserwerb.

Beim Thema „Information und Wissen“ geht es um die Kompetenzen, den Bedarf an Informationen zu erkennen, diese zu finden, zu beurteilen, zu speichern, zielgerecht zu verarbeiten, neu aufzubereiten und zugänglich zu machen. Zwar können die meisten Studierenden und Mitarbeiter die Informationen professionell layouten und mit ansprechenden Grafiken versehen, aber über eine schiere Aneinanderreihung von Fakten kommen sie nicht hinaus, weil sie nie gelernt haben, die vorhandenen Informationen zu vergleichen, sinnvoll zu verweben und zu einem neuen Ganzen zusammenzustellen.

Nicht Reduktion, sondern Synthese

Hartmann und Hundertpfund nennen das „Reduktion“, wenn sie schreiben:

War es in der Buchgesellschaft ein wichtiges Ziel, überhaupt genügend Quellen und Informationen zu erschliessen, verlangt die Informationsgesellschaft die Fähigkeit zur Filterung, zur Reduktion und zur Vertiefung.

Und:

Die Reduktion komplexer Sachverhalte mit dem Ziel, diese überschaubar und verständlich zu machen, ist eine … zentrale Aufgabe der Schule. Die Konzentration auf das Wesentliche gehört zum Handwerk des Lehrerberufs. Wichtig ist es, diese Methoden auch den Lernenden transparent zu machen.

Das klingt mir zu sehr nach „Komplexitätsreduktion“ und Vereinfachung, um nicht zu sagen „Trivialisierung“. Ich will komplexe Sachverhalte auf keinen Fall reduzieren, sondern im Gegenteil: Die zahlreichen Informationen über einen komplexen Sachverhalt sehe ich wie die chaotisch herumliegenden Farbtöpfe im Atelier eines Kunstmalers.

Maleratelier

Aufräumen, reduzieren, Ordnung schaffen, von ähnlichen Farben nur je eine zu behalten und die restlichen wegzuwerfen, etc. bringt nichts Neues hervor. Erst durch Auftragen all der Farbenvielfalt auf die Leinwand, Durchmischen und neu Anordnen des Farbendurcheinanders entsteht ein Bild.
Genauso muss man mit Informationen umgehen. Nicht die Vielfalt reduzieren, sondern kombinieren und verfliessen lassen, das führt zu neuen Inhalten.

(1) Werner Hartmann, Alois Hundertpfund: Digitale Kompetenz. Was die Schule dazu beitragen kann. hep Verlag, 2015, 176 Seiten. ISBN 978-3-0355-0311-1

7 Antworten auf „Die Kompetenz, mit Wissen relevantes Wissen zu kreïeren“

  1. Vielen Dank, vor allem für den kritischen Absatz zur „Komplexitäts-Reduktion“. Ich konnte dem Jubel über das Buch, nachdem ich Auszüge davon gesehen hatte, auch nicht recht folgen. Ich habe, gelinde gesagt, den Eindruck, hier wird versäumt, dem nachzugehen, worum es eigentlich gehen soll: Wie geht eigentlich „kritisches Denken“ wirklich? Dann müsste nämlich die Rede sein von Denkoperationen und Denkmethodologien statt von mechanischen Schiebespielchen – das stellen sich viele nämlich unter „Remix“ und „Reduktion“ vor. Das „Kritische“ wird reduziert auf die Frage: Ist die Quelle (der Typ, der schreibt) reliable, oder hat er einen an der Waffel oder gar (ökonomische) „Interessen“? Anstatt zu lernen, wie man an der Schreibe erkennen kann, dass da dummes Zeug steht, usw.

  2. Ja, ich glaube, ich weiss, was Du meinst. Aber ich habe vielleicht nicht so viel erwartet, wie Du offenbar. Mir gefällt, dass das Buch zehn Themen aufgreift und diese knapp und gekapselt darstellt. Jedes Kapitel zum Anlass eines Blogartikels zu nehmen, drängt sich mir fast auf.

    Ich finde durchaus Anregungen im Buch, die ich weiter denke und umzusetzen versuche. Aber gerne formuliere ich auch Kritik, wo meiners Erachtens Kritik angebracht ist.

  3. Offensichtlich beziehst du dich auf die Einleitung, welche sich insbesondere mit dem Wandel von der Buch- zur Informationsgesellschaft beschäftigt – notabene mit einem Buch (sic!). Da wird eine Entwicklung vor der Erfindung des Buchdrucks über nach dessen Erfindung bis zur heutigen Möglichkeit, selbst zur Informationsflut beitragen zu können, konstruiert, die keine Rücksicht auf die Qualität der Informationen nimmt. Es ist zwar richtig, dass mir die ZB grundsätzlich Gewähr zu einem gewissen Grad an Qualität gibt – nur: stimmt dies auch, wenn das hier besprochene Buch sich ebenfalls in der ZB einfinden sollte?

  4. Ich beziehe mich auf das erste Kapitel. Wie ich geschrieben habe, werde ich jedem Kapitel einen Blogartikel widmen. Die Einleitung eines Buches lese ich höchstens, nachdem ich das Buch gelesen habe.

    Nachdem ich letztes Jahr ca. 1000 papierene Bücher entsorgt habe, lese ich das Buch selbstverständlich elektronisch. Aber vor allem Formeln werden nicht richtig abgebildet.

    Doch, im ersten Kapitel wird Rücksicht auf die Qualität der Information genommen und ich habe diese Rücksicht in meinem Artikel auch gespiegelt. Die Autoren bemerken, dass die vielen Informationen im Web unterschiedlicher Qualität seien, wenn jeder seinen Senf ins Web stellen kann. Was aber nicht heisst, dass der wissenschaftliche Artikel, der früher in den Annalen erschien, automatisch von höherer Qualität zu sein braucht, als ein Blogartikel eines zwar nicht promovierten, aber dafür scharfsinnigen Zeitgenossen.

  5. Lieber Peter, besten Dank für das Aufgreifen eines solch interessanten und wichtigen Themas. Würdest Du mir das Buch auch als Dozent für EMBA-Studierende empfehlen?

    1. Lieber Leo! Das Buch ist als Denkanstoss für Lehrbegleiter jeder Stufe zweifellos nützlich, obwohl es uns, die wir seit Jahren sowieso mit digitalen Medien arbeiten, nicht grundlegend Neues vermittelt.

    2. Und übrigens: dass sich Hartmann/Hundertpfund hauptsächlich auf den engen Bereich der Kinderschule beziehen, tut der Sache keinen Abbruch. Ihre Anregungen, die sie für die Kinderschule geben, sind leicht auf die Erwachsenenschulen zu übertragen, weil sie dort genauso gelten.

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