Ich habe den Eindruck, noch nie in meinem Leben so intensiv gelernt und derart unmittelbar dieses Lernen wahrgenommen zu haben, wie in der jetztigen Lebensphase. Das kann verschiedene Gründe haben: einerseits habe ich endlich (wieder) Zeit zum Lernen und werde nicht ständig fremdbestimmt zum Weitergehen gedrängt. Andererseits bin ich in den letzten zehn Jahren immer mehr in eine Bildungs- und Lerncommunity hineingewachsen und reagiere deshalb sensibel auf Lernprozesse, wie ich sie bei mir beobachte.
Bulimielernen versus trial-and-error-Lernen
Zwei Lernarten beobachte ich: einerseits das „Schullernen“ (auch schon mal „Bulimielernen“ genannt), wo es darum geht sich hinzusetzen und z.B. eine Stunde lang etwas „in den Kopf hinein zu hämmern“, wie z.B. Vokabeln oder Formeln auswendig zu lernen. Andererseits gibt es das „Alltagslernen“ (auch schon mal „trial-and-error-Lernen“ genannt), wo ich in der erlebten Situation Erfahrungen mache und daraus etwas lerne. Meistens sind es Negativerlebnisse, wie z.B: eine Enttäuschung oder eine Anstrengung, aus denen ich etwas lerne, was sich meistens in einer Verhaltensänderung niederschlägt. Dann gibt es auch etwas zwischendurch:
wenn ich beispielsweise lerne, gute Fotografien zu machen. Klar, dazu könnte ich mich auch durch einen Kurs lesen und die dort (auswendig) gelernten Ratschläge draussen anzuwenden versuchen. Aber so gehe ich nicht vor. Zwar lese ich ab und zu Ratschläge erfolgreicher Fotografen. Auch schaue ich mir Bilder an, die mir gefallen und frage mich, warum sie mir gefallen und was es ausmacht, dass dieses Bild auf mich attraktiv wirkt. Dann aber probiere ich in der Praxis das eine oder das andere aus, was mir eben gerade so in den Sinn kommt. Im Nachhinein frage ich mich bei den attraktiven Bildern, wie ich darauf gekommen bin und was ich genau gemacht habe, um Erfolg zu haben.

Ein anderes Zwischending ist das Kennenlernen von Plattformen. Meine guten Fotos möchte ich aus verschiedenen Gründen einem grösseren Publikum vorstellen. Es gibt Plattformen, auf denen man die eigenen Fotos publizieren kann, wie z.B. Instagram oder Flickr. Meine Fotografien werden aber höchstens von denjenigen gesehen, die mir folgen. Also müsste ich möglichst viele Follower haben, um mit meinen Bilder ein möglichst grosses Publikum zu erreichen. Doch wie komme ich zu Followers? Ich bin seit Jahren auf Instagram und habe dort meinen Account laufend weiterentwickelt, basierend auf meinen Erfahrungen mit der Plattform. Ich habe vor allem bei bei erfolgreichen Accounts abgeguckt. Ich habe Hashtags und Wettbe-
werbe ausprobiert und mal positive und mal weniger positive Erfahrungen gemacht. All das führte zu einem Entwicklungspfad und ich kann sagen, dass ich heute mit über 2500 Followers ziemlich genau weiss, wie Instagram funktioniert, obgleich es für mich noch immer Geheimnisse birgt. Während der Arbeit mit Instagram habe ich also viel gelernt. Wenn ich mich nun diversifizieren oder erweitern möchte, muss ich andere Plattformen kennen lernen. Das tue ich aktuell mit Flickr und EyeEm. Dort habe ich aktuell bloss 230, resp. 160 Followers und keine Ahnung, wie diese Plattformen ticken. Nach guter Bulimielernart lese ich ab und zu etwas darüber, aber die Plattformen lerne ich tatsächlich nur dann kennen, wenn ich damit arbeite und dies und das ausprobiere.
Was mir nicht unmittelbar nützt, lerne ich nicht
Ein anderes Gebiet, das ich beackere, ist die angewandte Mathematik. In der System Dynamics gibt es Diagramme, um ein System qualitativ zu beurteilen. Diese Diagramme geben immer wieder Anlass zu Diskussionen, vielleicht auch deshalb, weil sie nicht immer richtig verstanden werden. Auf der anderen Seite gibt es in einem neueren Zweig der Mathematik eine Entwicklung zur Anwendung hin, die speziell Diagramme als mathematische Objekte beschreibt. Diese Entwicklung nennt sich „Applied Category Theory (ACT)“. Ich versuche, beide Ansätze zu verbinden und so zum Verständnis der System Dynamics Diagramme beizutragen.
Dazu müsste ich viel über ACT lesen, das meiste ist allerdings für mein Anliegen nicht von Belang. Aber ich kann das erst beurteilen, wenn ich es gelesen und verstanden habe. Das heisst, ich muss viel unnützes Zeug lernen, was nicht gerade zu meiner Motivation beiträgt. Immer denke ich, dass ich dann einmal, wenn ich alt bin und Zeit habe, all diese Theorie lernen werde und schiebe das Vorhaben so vor mich hin. Wenn ich ganz tief in mich hinein horche, dann finde ich mich plötzlich als einen meiner Studenten wieder, die sich auch fragen, wozu sie diesen Kram lernen müssen. Meine Situation trägt zum Verständnis meiner Studentinnen und Studenten bei. Ich werde im nächsten Kurs wohl anders kommunizieren.

Ich kann somit „Lernen“ auch in „motiviertes Lernen“ und „erzwungenes Lernen“ unterteilen: wenn das Lernobjekt nicht unmittelbar die Bedürfnisse abdeckt, bin ich nicht motiviert. Auch wenn ich alle Zeit der Welt habe: ich verschiebe Lernen auf morgen, wenn es mir anscheinend nicht unmittelbar nützt. So ist es beim Lesen eines Manuals oder anderen Bedienungsanleitungen.
Da steht alles drin, nur das nicht, was einem gerade interessiert. Wenn ich mich mit einem neuen System beschäftige – ein Programm, eine Plattform oder ein Device – dann probiere ich dies und das aus und lerne durch trial-and-error, aber sicher nicht durch Bulimielernen, indem ich ein Manual lese, denn das funktioniert nicht.
Lernen ist Veränderung ist Lernen
Zurück zum Alltagslernen, der wohl effektivsten Lernart. Veränderungen haben viel mit Lernen zu tun. Während ich lerne, verändere ich mich und während der Veränderung lerne ich. Wer physisch und geistig stets am selben Ort bleibt, in derselben Umgebung und Kultur, bleibt in einem Groove gefangen und wird sich nicht laufend verändern. In Wie ändert man Weltanschauungen? habe ich zwei Arten von Alltagslernen beschrieben: dem modellbasierten und dem modellfreien Lernen. Das modellfreie Lernen ist trial and error, eine sehr erfolgreiche Lernmethode übrigens. Das modellbasierte Lernen funktioniert vor allem durch Fehler. Wir können die Welt nicht unmittelbar wahrnehmen, sondern machen uns von allem ein (mentales) Modell, sei es vom Partner, vom
Bürogebäude, von unserer Lebenssituation, vom Selbst oder von der Klimaerwärmung. Zwischenmenschliche Kommunikation dient dem Abgleich der mentalen Modellen. Wenn nun etwas passiert, das uns nicht verständlich oder nicht geheuer ist, dann hat unser Modell offenbar einen Fehler und wir müssen es anpassen. Die Anpassung eines mentalen Modells ist aber schmerzhaft, vor allem, wenn wir das Modell vielleicht schon Jahrzehnte lang erfolgreich (weil stets in derselben Umgebung) benutzt haben. Wir können unsere Modelle aktiv der Falsifikation aussetzen, indem wir damit in viele verschiedene Umwelten gehen und schauen, wie sie sich bewähren. Das ist das, was ich im Moment erlebe. Ich teste gerade meine mentalen Modelle und passe eines um das andere an, ein Lernvorgang par excellence.
Schreibe einen Kommentar zu Peter Addor Antwort abbrechen