Bleiben Sie mir bloss mit den dünnen VUCA-Brettchen fern!

Über Komplexität kann man nicht reden, aber nicht, weil man sie dadurch entweihen würde, sondern weil jede Person unter dem Begriff etwas Anderes versteht. Meistens wird eine Situation als „komplex“ bezeichnet, wenn gleichzeitig viele Ereignisse passieren und viele z.T. widersprüchliche Informationen vorliegen, so dass der Protagonist die Übersicht verliert und ihm Entscheidungen schwerfallen. Aber das ist reine Überforderung und hat nichts mit Komplexität zu tun.

Die Funktion der Komplexität

Andere sehen in der Komplexität etwas Hehres oder gar Sakrales, das durch die blosse Beschreibung seinen filigranen Zusammenhang verliert. Für mich manifestiert sich Komplexität in emergenten Systemstrukturen. Dabei evolviert das System von einer Struktur zu der nächsten Struktur, die eine entsprechend höhere Komplexität aufweist. Die Strukturen versetzen das System in die Lage, gewisse Umgebungsanforderungen erfüllen zu können. Im speziellen Fall von Unternehmenssystemen können mittlerweile etwa drei oder vier solche Strukturen identifiziert werden, durch die Unternehmen evolvierten: Patriarchalische, hierarchische, leistungsorientierte und pluralistische Organisationen. Eine neue steht möglicherweise unmittelbar bevor, weil die pluralistische Struktur durch die Digitalisierung bereits wieder an ihre Grenzen kommt.

Für die Mehrheit der Menschen bestehen komplexe Systeme aus vielen Subsystemen, die sich in intransparenter Weise und schneller Abfolge gegenseitig beeinflussen. Daher wird aus volkstümlicher Sicht „Komplexität“ mit „Ungewissheit“, „Uneindeutigkeit“ und „Volatilität“ gleichgesetzt, was das US Army War College angesichts des Zusammenbruchs der Sowjetunion in den 90er Jahren das Akronym „VUCA“ erfinden liess

Zufällige Buchstabenkette

Über den Begriff „VUCA“ habe ich hier schon einmal geschrieben.  Es scheint, als hätte das US Militär ein paar Begriffe zusammengewürfelt, die zweifellos etwas miteinander zu tun haben, aber weder vollständig sind, noch in einem einheitlichen Verhältnis zueinanderstehen. Volatilität, Ungewissheit und Ambiguität sind Auswirkungen von Komplexität. Insofern passt hier der Buchstabe „C“ nicht rein, denn er ist die Ursache der drei anderen. Aber Komplexität hat noch mehr Wirkungen, als nur die drei, die mit V, U und A gemeint sind. Es hätten also gerade so gut auch anderen Begriffe sein können, die in das Akronym eingeflossen sind. Z.B. ist Emergenz eine viel wichtigere Auswirkung von Komplexität, als Volatibilität, Ungewissheit und Ambiguität zusammen. Zusätzlich gehören Ein- und Erstmaligkeit zu den Begleiterscheinungen von Komplexität.

Das Akronym „VUCA“ scheint also völlig zufällig entstanden zu sein, ohne dass irgendwann irgendwer Rechenschaft darüber abgelegt hätte, ob es denn auch einen Sinn macht. Die Vermittlung der Kompetenz kritischen Denkens bleibt vorläufig ein gutgemeinter Vorsatz.

Haarsträubende Geschichten

Mittlerweile verwenden auch ernstzunehmende Berater und Referenten das Akronym, oft in völlig falschem Zusammenhang. Einer behauptet z.B.: „Umgangssprachlich meint VUCA, das nicht Erfassbare erfassbar zu machen“. Nein, das meint VUCA bestimmt nicht!

Ein anderer verbreitet auf seiner Website den Schwachsinn, dass VUCA die Welt erkläre. In einer Umfrage soll der Leser anklicken, welche der vier Einzelbegriffe er am „höchsten bewertet“. Missbräuchlicher könnte mit dem Akronym nicht umgegangen werden!

Wo vier Einzelbegriffe vorliegen, tauchen auch sofort Vierfeldermatrizen auf, die das Akronym scheinbar auf die Ebene eines Konzepts oder gar einer Theorie heben.

Mit Vierfeldermatrix ein Konzept vortäuschen

VUCA wird mittlerweile mit den beiden Dimensionen „Voraussagemöglichkeit“ und „Kenntnis des Zustandes“ in so einer Vierfeldermatrix dargestellt und alle schreiben sie einander ab. Nur einer konnte nicht einmal richtig abschreiben und hat die Dimensionen vertauscht, ohne die Positionen der vier Elemente anzupassen. Das würde zu einer völlig anderen Interpretation des Begriffs führen.

Die Dimensionen einer Vierfeldermatrix sind unabhängige Variablen, also Grössen, die vorgegeben sind und nach denen sich das System richtet. Voraussagemöglichkeit und Zustandskenntnis ergeben sich aber als Konsequenzen der Komplexität, die dem System eigen ist. Insofern ist eher der Grad von Komplexität eine der Dimensionen der Vierfeldermatrix. Mit anderen Worten: die Komplexität hängt nicht von der Vorhersagemöglichkeit ab, sondern umgekehrt! Aber darüber muss man schon ein wenig nachdenken, was in einer Zeit, in der es vornehmlich um Effekthascherei geht, nicht der kollektiven Bedürfnislage entspricht.

VUCA-Abwehr

In einem Forbes-Artikel ist sogar schon von „VUCA 2.0“ die Rede – Vision, Understanding, Courage, Adaptility – meint aber damit offenbar eher eine Antwort auf VUCA (1.0).

Wenn mit VUCA die Zunahme von Komplexität gemeint ist, was Planungs- und Prognosehorizonte verkürzt, dann haben Führungskräfte, die das mentale Modell von hierarchischen Strukturen verinnerlichen und an Kontrolle gewohnt sind, ein Problem. Gerne bieten Berater Lösungen an (obwohl es keine gibt). Der eine empfiehlt eben die Kompetenzen „Vision, Understanding, Courage, Adaptility“, einfach weil sie auch das Akronym VUCA ergeben. VUCA gegen VUCA. Vielleicht bietet er gleich noch Ausbildungen zur Erlangung dieser Kompetenzen an.

Ein anderer möchte auch VUCA gegen VUCA machen und rät auf Folie 41/57 einer Präsentation zu „Vison, Understanding, Clarity, Agility“. Solche sinnentleerten Beispiele gäbe es noch viele.

Ebenso als eine „Antwort“ auf VUCA versteht sich das VOPA+ Modell: Vernetzung, Offenheit, Partizipation, Agilität und das + bedeutet „Vertrauen“. Auch VOPA wird gemeinhin in einer Vierfeldermatrix dargestellt, aber meistens ohne Dimensionen, was es in dieser Darstellung völlig bedeutungslos macht. Es würde genügen, die fünf Begriffe einfach aufzulisten.

Was häufig erwähnt wird, wird häufiger erwähnt

In einer Dokumentation, die ZDFneo am 18. Mai 2017 ausstrahlte, hat Sascha Lobo ein paar Experimente vorgeführt, die zeigen sollen, wie leicht es ist, Menschen zu manipulieren (1).
Obwohl seine Findings wohlbekannt waren, sind seine einfachen und anschaulichen Experimente doch eindrücklich. Im ersten Experiment hat er acht Probanden eine Reihe Bilder gezeigt, die facebook-ähnlich daherkamen, also u.a. mit einer Angabe der Anzahl Likes, die das Bild erhalten hat. Eine Bilderserie bestand aus 3-4 fast völlig identische, ansonsten nichtssagende Bilder und die Probanden mussten sagen, welches Bild der Serie ihnen am besten gefällt. Natürlich wählten die Probanden meist dasjenige Bild mit den meisten Likes. Ein ähnliches Experiment basierte auf schwierigen Wissensfragen mit einer Auswahl an Antworten mit der Angabe, wie viele Leute diese Antwort bei einem früheren Quiz gegeben hatten. Man kann auf diese Weise jede Antwort provozieren.

Das ist der berühmte Matthäus-Effekt: wer viel hat, erntet viel, wer wenig hat, geht leer aus. Jedes Mal, wenn der Begriff „VUCA“ verwendet wird, trägt das dazu bei, dass er noch attraktiver wird.

Die Polya-Verteilung

Der Mathematiker Georges Polya hat folgendes Experiment vorgeschlagen: Zu Beginn enthält eine Urne zwei Kugeln, eine schwarze und eine weiss. Es wird eine Kugel zufällig gezogen und wieder zurückgelegt. War sie schwarz, wird eine weitere schwarze Kugel in die Urne gelegt. War sie weiss, wird eine weisse Kugel in die Urne gegeben. Nun sind es drei Kugeln. Wieder wir eine Kugel zufällig gezogen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie dieselbe Farbe hat, wie beim ersten Zug, ist jetzt grösser. Wieder wird die gezogene Kugel zurück gelegt und zusätzlich eine mit derselben Farbe, wie die der gezogenen, dazugegeben. Nun enthält die Urne vier Kugeln. Bei jedem Zug kommt eine Kugel dazu.
Sie können sich ohne Mühe überlegen, dass zu Beginn beide Farben dieselben Chancen hatten, dann aber eine Farbe überhandnimmt und die andere immer mehr unterdrückt.
Genau das passiert mit solchen Begriffen wie „VUCA“. Jedes Mal, wenn sie erwähnt werden, steigt ihre Akzeptanz. Das ist eine einfache statistische Ursache.

Populismus und Kritisches Denken

Dazu kommt jetzt noch eine inhaltliche: Je komplexer die Welt, desto grösser die Akzeptanz vereinfachender Begriffe und Stories. Das machen sich neuerdings politische Kreise zu Nutzen, die die Welt mit plakativen Dichotomien oder paar Schubladen erklären, gerne vier Schubladen, zwei rechts und zwei links. Solche Vierbuchstabenkürzel oder Vierfeldermatrizen sind ja auch nichts anderes als etwas ausgedehnte Dichotomien. Damit kann die Gesellschaft gespalten werden, und wenn man sich jetzt nioch elitefeindlich gibt, hat man schnell die Mehrheit hinter sich.

Dass unsere digitalen Fussabdrücke, die wir im Web hinterlassen, wenn immer wir online sind, gespeichert, analysiert und zu Marketingzwecken verwendet werden, empfinde ich persönlich noch nicht sehr beunruhigend. Beunruhigend ist, wenn die Menschen aufgrund ihrer Daten zu kollektiven Reaktionen verleitet werden, die sie gar nicht wollten. Das wird von Intriganten und Demagogen zwar seit hunderten von Jahren gemacht, aber mit Sozialen Medien gelingt der Trick umso besser. Da wird mit verfälschen Kontexten und gefälschten Likes eine Crowd vorgegaukelt, auf die immer mehr Menschen reinfallen. Dagegen ist kein Kraut gewachsen, es hilft lediglich kritisches Denken.

Angesichts solcher düsteren Aussichten ist die Verbreitung des dümmlichen VUCA-Begriffs geradezu eine Bagatelle, könnte man meinen. Ihre einlullende Wirkung erodiert aber gerade das kritische Denken, das gegenüber populistischen Machenschaften dringend gebraucht würde, wenn es denn überhaupt vorhanden war.

Das I-Space-Modell gegen das Cynefin

In einer Slideshow über Lernen und Management 2.0 als neue Rolle der Führungskräfte stellt Folie 18/44 diese VUCA-Vierfeldermatrix neben das Cynefin-Modell, das ja auch aus einer Vierfeldermatrix besteht und eines der Felder – Komplexität – mit einem der Felder des VUCA-Modells übereinstimmt.

Aus Tom Graves, More on chaos and Cynefin (2)

In Können kleine Systeme komplex sein?  habe ich die Geschichte des Cynefin-Modells nachvollzogen, das aus dem I-Space-Modell von Max Boisot hervor ging. Das I-Space-Modell findet in einem Würfel statt, dessen drei Dimensionen noch klare Grössen hatten, während das Cynefin-Modell, das alles andere als ein Modell ist, meist ohne Dimensionen präsentiert wird. Wenn Sie mal in Google eine Bildersuche nach „Cynefin“ vornehmen, dann stellen Sie fest, wie schwierig es ist, Darstellungen mit Dimensionen zu finden. Eine stellt die vier Felder in die Dimensionen „Offenheit der Ziele“ und „Anzahl Spielregeln“, während ein anderer die Dimensionen „Ordnung“ und „Reaktionszeit“. Seine Erklärung, dass das Gegensatzpaar „kompliziert“ und „komplex“ erst dann auftreten kann, wenn genügend Zeit zur Analyse besteht – so habe ich die diffuse Erklärung verstanden -, ist aber einigermassen an den Haaren herbeigezogen.

Max Boisot ging es im I-Space Modell um Wissensstrukturen. Er unterscheidet zwischen

  • öffentlichem Wissen, das aufbereitet und verbreitet ist
  • geheimem Wissen, das aufbereitet und nicht verbreitet ist
  • persönlichem Wissen, das weder aufbereitet noch verbreitet ist
  • Allgemeinwissen, das zwar nicht aufbereitet, aber weit verbreitet ist
John W. Lamp und Simon K. Milton. The social life of categories: An empirical study of term categorization
Article (3)

Komplexität kann aufgrund des verfügbaren Wissens auch bloss ein (subjektiver) Eindruck sein. Das I-Space Modell siedelt Komplexität zwischen Chaos und Ordnung an, wie es sich gehört. Aber Ordnung ist nicht einfach mit Kompliziertheit gleichzusetzen. Das Gehirn hat als komplexes System eine Ordnung. Auch die dem Gehirn entsprungenen Gedanken meines (komplexen) Bewusstseins haben eine gewisse Struktur.

Die Cynefin-Darstellung hat das I-Space-Modell bis zur Unkenntlichkeit vereinfacht, nach dem open source Spruch „fucked until byond any recognition“. Das ist sehr schade, denn das I-Space-Modell hatte Hand und Fuss und regte zumindest zum Nachdenken an. Als ich bei einer Gelegenheit vorschlug, Cynefin wieder durch das I-Space-Modell zu ersetzen, schlug mir eine Welle der Entrüstung entgegen. Das sei viel zu kompliziert. Aber so ist das nun mal mit der Dünnbrettbohrerei. Menschen wollen einfache, überschaubare, genehme und anschauliche Erklärungen dieser komplexen Welt, die schon nur bei gedankenloser Betrachtung Kopfschmerzen verursacht.

(1) https://www.zdf.de/sender/zdfneo/manipuliert-100.html

(2) Tom Graves, More on chaos and Cynefin. 2010

(3) John W. Lamp und Simon K. Milton. The social life of categories: An empirical study of term categorization
Jan 2012 · Applied ontology

22 Antworten auf „Bleiben Sie mir bloss mit den dünnen VUCA-Brettchen fern!“

  1. Danke Peter für die fundierte Aufklärung! Ich werde meinen hoffentlich nicht so haarsträubend falschen Einsatz des VUCA Akronyms gewaltig einschränken…

    Und die Aufklärung über Cynefin ist ebenso hilfreich, I-Space macht für mich spo ran viel mehr Sinn und ist auch definitiv interessanter.

    Herzliche Grüße, Andreas

    1. Oh! Danke, Andreas, das ist ja ein grosses Kompliment, wenn ein Blogpost von mir, Dich zum Nachdenken oder gar zu einer Verhaltensänderung anstösst. Dabei fürchtete ich, dass man mir vorwirft, ich sei in diesem Post zu destruktiv. Die Reaktion auf einen Blogpost ist wirklich stets unvorhersehbar, ganz wie es sich für ein komplexes Umfeld gehört…. 😉

      Herzlichst,
      Peter

      1. Lieber Peter,

        Freut mich, dass Du das als großes Kompliment wahrnimmst. Ich finde Deine Beiträge definitiv nicht als destruktiv sondern kritisch konstruktiv. Es gibt immer irgendwelche Leute, die damit nicht umgehen können, weil sie ihr bisheriges Wissen nicht hinterfragen wollen. Diese Dynamik ist von Bequemlichkeit und Angst geprägt, statt von einem aufgeklärten Geist. Damit müssen Menschen wie wir leben. Das hat indes nichts mit unseren Gedanken zu tun, sondern ist meistens vielmehr eine unbewusste Selbstoffenbarung.

        Herzliche Grüße
        Andreas

  2. Coole Art des Schreibens. Schöne Beobachtungen und geniale Themen. Ich bin Lehrer und kümmer mich um den Nachwuchs. Wie können wir die jungen Menschen optimal auf Komplexität vorbereiten?

    Vg Robert

    1. Hallo Robert

      Danke für das Kompliment und vor allem für die schöne Frage, wie wir junge Menschen auf Komplexität vorbereiten können.

      Wenn man sich auf etwas vorbereitet, muss man ja wissen, was auf einem zukommt, d.h. was das genau ist, worauf man sich vorbereiten muss. Wie ich geschrieben habe, hat jeder eine andere Definition von Komplexität und daher können wir diese Frage gar nicht richtig beantworten.

      Formulieren wir also Deine Frage um: Wie können wir junge Menschen auf Ungewissheit, Volatilität, Erstmaligkeit, Emergenz, etc. vorbereiten?

      Ich würde mit kritischem Denken anfangen, aber das sollte in der Medienbildung sowieso ein Thema sein. Deine SuS haben doch Medienbildung?
      Parallel würde ich in jedem Fach systemisches Denken vermitteln. Beschaffe Dir das Buch von Günther Ossimitz, Entwicklung systemischen Denkens (http://www.ebook.de/de/product/3066059/guenther_ossimitz_entwicklung_systemischen_denkens.html). Darin erklärt Günther, wie er sich die Vermittlung systemischen Denkens in der Grundschule vorstellt.

      Schwieriger wird nun die eigentliche Vorbereitung auf die Aufgabe, mit Unbestimmtheit und Volatilität umzugehen. Ich frage mich, ob das im Rahmen der herkömmlichen Schulinstitutionen überhaupt möglich ist. Ich glaube, es geht darum, eine Haltung, ein Gefühl oder eine Weltsicht aufzubauen, die basieren auf Peer-to-Peer. Das hat zwei Seiten. Die einfacher zu beschreibende hat das Label „Augenhöhe“. Es gibt keinen Lehrer, der weiss, wie etwas funktioniert und es den SuS beibringt, die sein Wissen ehrfürchtig aufsaugen. Alle sind gleich und lernen voneinander gleichermassen, denn alles ist ja erst- und einmalig. Es gibt auch keinen Chef, der sagt, was zu tun ist, denn der Arbeiter weiss selber bessser, was in seinem Bereich getan werden muss, um die Aufgaben gut zu bewältigen.
      Die andere Seite von Peer-to-Peer könnte man mit dem Label „Working and Learning out loud“ umschreiben. Es geht darum, ständig in der Crowd zu sein, zu lernen und zu arbeiten. Die Crowd ist nicht bloss das Team, sondern kann dank Social Media viel grösser sein. Man denkt zusammen (laut), man redet zusammen, man entwickelt sich zusammen.

      Meinst Du, so etwas könnte die Schule vermitteln? Wie?

      Herzlichst,
      Peter

  3. Moin Moin Peter,

    danke, dass Du weiter auf dem Thema herum denkst. Ja, ich bin bei Dir. Es wird ganz viel Schindluder mit dem Begriff der Komplexität getrieben. Deshalb sind Beiträge wie dieser wohltuend. Und ja, Emergenz ist ein wichtiges Merkmal von Komplexität. Und genau deshalb bin ich auch der Meinung, dass wir alleine beim Denken über komplexe Systeme genau diese Komplexität zerstören.

    Denn.

    Beim Denken gehen wir streng analytisch vor. Wir zerlegen ein Problem in Teilprobleme, lösen dann die Teilprobleme und setzen die Teillösungen zu einer Gesamtlösung zusammen. Wir können gar nicht anders. Damit zerstören wir aber rein gedanklich die emergenten Eigenschaften des eigentlich zu lösenden Problems. Dem komplexen Problem an sich ist es vollkommen egal, wie wir über dieses denken. Nur wir bemerken diesen, wie ich immer so schön sage, Kategorienfehler eben oft nicht.

    Eine Lösung ist jetzt natürlich nicht, nicht mehr denken zu wollen. Ganz im Gegenteil. Ich stehe ab dieser meiner Erkenntnis Komplexität mit mehr Demut gegenüber.

    Und deshalb glaube ich auch daran, dass man alleine beim Reden über Vertrauen, Liebe etc. (was ja alles komplexe Sachverhalte sind) den eigentlichen Zauber darum zerstört. Komplex handeln können wir, aber eben nicht denken und dann darüber reden. Auch wenn wir eine einheitliche Definition zu Komplexität hätten, wäre dieses Dilemma nicht behoben.

    Die Unterscheidung zwischen Kompliziertheit und Komplexität habe ich hier (https://blog-conny-dethloff.de/?p=3376) vorgenommen. Aber ich glaube Du kennst diesen Beitrag bereits. In diesem Beitrag habe ich auch formuliert, dass lebende Systeme, wie der Mensch, sowohl komplexe als auch komplizierte Bestandteile haben. Des Weiteren habe ich in diesem Beitrag das Cynefin-Modell für mich gedanklich erweitert.

    BG, Conny

    1. Lieber Conny

      Ich sehe es genau umgekehrt: Während wir zirkulär, synthetisch-aufbauend und in Phantasien denken können, handeln wir immer schrittweise und im Moment. Für mich nähern wir uns gerade beim Handeln in Teillösungen der ganzheitlichen Vision, die wir gedanklich vor unserem geistigen Auge haben.

      Wenn Du Dir z.B. vornimmst, durch Handeln Deinen Kinder in vielen Jahren ein Umfeld zu schaffen, das es ihnen erlaubt, zu verantwortungsvollen und was auch immer für Menschen heranzuwachsen, dann sind Deine Handlungen immer nur Stückwerk. Heute verzichtest Du bewusst zu Gunsten der Kinder auf etwas, morgen gehst Du mit den Kinder an einen Ort, wo sie etwas lernen, das sie näher an Deine gedankliche Vision heran führt, etc.

      Wir handeln in der Zeit, also seriell und in Einzelaktivitäten. Wir können aber Visionen und Phantasien ausdenken, die alle räumlichen und zeitlichen Grenzen sprengen und jede Komplexität einschliessen.

      Ob solche Dinge, wie Vertrauen, komplex sind, kann ich nicht sagen. Möglicherweise ist Vertrauen nur eine Rahmenbedingung, die komplexe Strukturen begünstigt. Nochmals: jeder hat eine andere Vorstellung von Komplexität. Wenn wir also fragen, ob Vertrauen komplex ist, wirst Du die Frage bejahen, andere werden sie möglicherweise verneinen. Und dann? Was haben wir erreicht?

      Mir scheint die Diskussion um Komplexität und Kompliziertheit immer müssiger. Wenn wir sagen, dass bisherige Unternehmensorganisationen an ihre Grenzen kommen, weil die Komplexität der Welt zugenommen hat, dann meinen wir ja, dass hierarchische Führungsprinzipien keinen Erfolg mehr haben in einer Welt, die höchst sensitiv von den Anfangsbedingungen abhängt. Ob das jetzt kompliziert oder komplex ist und ob wir uns gedanklich reinhängen können oder nicht, ist letztlich egal. Hauptsache, wir erkennen, dass wir etwas ändern müssen.

      Liebe Grüsse,
      Peter

  4. Vielen Dank Peter,
    für diesen Expertenbeitrag. Ich habe viel gelernt.

    ICh bin möglicherweise nicht so weit als das ich alles was hier geschrieben steht schon durchdrungen hätte oder habe, aber ich Bitte folgendes zu bedenken:

    1. Die VUCA- Formel ist in meinem Kontext sehr wohl dazu geeignet die Zunahme von Dynamik in der Unternehmensumwelt zu beschreiben.
    Dabei kann das V für Volatilität (das was gestern gegolten hat, gilt heute nicht mehr) mit einer gewissen Objektivität durchaus als geeignetes Beispiel und meinetwegen konstruiertes Beispiel, dazu dienen, die veränderten Bedingungen am Markt zu veranschaulichen, oder?

    2. Komplexität ist sicherlich ein subjektive Größe aber im Unternhemensumfeld und in „vereinfachter“ Erklärung bedeutet der Umgang mit Komplexität (Probieren – Erkennen – Reagieren) das in vielen Fällen eben eine „schnelle“ Analyse nicht möglich macht,da erst durch „Probieren“ sich die Zusammenhänge des Systems offenbaren. Oder anders – die Ursache-Wirkungszusammenhänge können erst im Nachhinein wahregenommen werden.

    Ist das falsch? Also die Frage ist ernst gemeint – ich habe das bisher so verstanden.

    ICh habe ein wenig bedenken das wir hier in eine Expertendiskussion abhebe, die möglicherweise dann die Akteure eher abhält davon aktiv zu werden als das Gegenteil.

    1. Hallo Alexander

      An dem, was Du sagst, ist nichts falsch. Du kannst das Akronym „VUCA“ gerne im Kopf behalten, um mit Deinen Kunden über die Auswirkungen von Komplexität zu sprechen: Volatilität, Ungewissheit in Entscheidungssituationen und Uneindeutigkeit von Fakten.

      Damit hast Du aber noch längst nicht alles. Du wirst auch auf Unvorhersehbarkeit/Unplanbarkeit, Erst- und Einmaligkeit, Emergenz, Neben- und Fernwirkungen, Feedbackschlaufen, sensitive Abhängigkeiten von Anfangsbedingungen (sog. Schmetterlingseffekt), Auswirkungen von Verzögerungen, etc. eingehen müssen. Dazu musst Du mehr von Komplexität verstehen, als bloss ein stupides Akronym zu kennen.

      Gerade das Ursache-Wirkungsdenken ist in einer komplexen Welt fatal, weil eine komplexe Welt eben nicht aus Ursachee-Wirkungsketten besteht, sondern aus sich aufschaukelnden oder sich dämpfenden Feedbackschlaufen, die eine nicht-lineare Dynamik verursachen.

      1. Hallo,

        auch von mir danke für den Beitrag, der mich in jedem Fall zum Nachdenken anregt. Vor allem: ob ich in meinen bisherigen Beiträgen nicht ebenfalls auf die Neigung zur Vereinfachung reingefallen bin (v.a. http://chaosverbesserer.de/blog/2017/02/25/komplex-und-kompliziert-wo-liegt-da-der-unterschied/).

        Insofern geht es mir also wie Alexander, dass ich noch nicht weiß, ob ich das hier geschriebene schon voll durchdrungen habe.

        Bezüglich des Ursache-Wirkungsdenkens frage ich mich, ob Ansätze wie das Cynefin-Framework nicht trotzdem als erster Schritt weg von einem Ursache-Wirkungsdenken dienen können. Weil dieses Denken bei den Akteuren ja nun mal da ist und die Aussage, dass sich Ursache und Wirkung (wenn überhaupt) erst im Nachhinein ermitteln lassen, zumindest mal aufzeigt: der Versuch Ursache und Wirkung zu bestimmen, bevor man überhaupt los geht, wird uns nicht weiter bringen.

        Oder verenn ich mich da im Versuch das Unfassbare halbwegs fassbar zu machen?

        Gruß
        Patrick

        P.S. Hoffe der Kommentar kam jetzt nicht doppelt an: bekam in anderem Browser (Safari) die Meldung des Spamschutzes, dass er meinen Browser für einen Bot hält.

        1. Hallo Patrick

          Vielen Dank für diese interessanten Fragen und den Link zu Deinem Blog. Der Artikel gefällt mir gut, er hat ein paar interessante Impulse.

          Du hast ja recht, dass „dieses Denken bei den Akteuren ja nun mal da ist“ und man die Menschen dort abholen muss, wo sie stehen. Wenn dann Begriffe, wie VUCA und Bildchen, wie das Cynefin-Modell, schon weit verbreitet sind, könnten sie dem Abholen dienen. Das sehe ich ja auch ein. Wenn man die Menschen dann aber mal abgeholt hat, sollte man sich mit ihnen möglichst schnell auf den Weg begeben und VUCA und Cynefin hinter sich lassen. Cynefin ist mir einfach ein zu dünnes Brettchen, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Welt ist gewiss nicht zweidimensional, nur um sich den Menschen zu genehmen, die nicht höherdimensional denken wollen. Für mich findet Komplexität in einem vieldimensionalen Raum statt und vermischt sich dort weitgehend mit der Kompliziertheitswolke.

          In Deinem Blogpost gehst Du auf verschiedene Practices ein und ordnest sie dem Cynefin-Modell zu. Ich habe mich auch schon über den Managementbegriff „best practice“ ausgelassen und kam zum selben Schluss wie Du, dass nämlich best practices nur eingeschränkt brauchbar sind. Sie gehören in die Ecke, wo man weiss, was auf einem zukommt. Aus dieser Ecke sind ja nun die meisten Unternehmen verschwunden und können deshalb mit best practices nichts mehr anfangen.

          Aber was sind den eigentlich „practices“? Sind das nicht Handlungsanweisungen, wie etwas gemacht werden muss? Eigentlich eine Art Rezepte. Dem Anwender ist es freigestellt, ob er sich bloss an eine good oder gar an die best practice hält. Stimmt’s? Aber dann verstehe ich den Begriff „emergent practice“ nicht, denn eine Emergenz kann nicht einfach so hervor geholt werden, wie ein Löffel aus der Besteckschublade. Eine Emergenz ereignet sich in sehr komplexen Systemen zufällig und unvorhergesehen. Danach ist das System nicht mehr, was es war.

          Das meine ich, wenn ich sage, dass man mit den abgeholten Menschen möglichst schnell weitergehen sollte. Ich finde es gut, wenn wir mit ihnen über Emergenz reden und auch sagen, dass sie Emergenzen nicht willentlich herbeiführen können, sondern nur die Bedingungen schaffen, damit vielleicht eine Emergenz passiert. Diese kann das System dann aber in eine Richtung katapultieren, die die Mancher gar nicht vorgesehen hatten. Damit müssen sie rechenen und klar kommen.
          Um über Emergenzen zu reden – Konrad Lorenz sprach von „Fulgurationen“ – muss man aber einen Wissensvorsprung haben und ein bisschen etwas vondynamischen Systemen verstehen.

          Gruss,
          Peter

          1. Hi,

            erstmal danke für das Kompliment bezügliches meines Artikels, denn als solches fass ich es auf.

            Ich denke, du hast in jedem Fall Recht, dass man sich noch mehr mit dynamischen Systemen beschäftigen muss. Da steh ich (allerdings eher als interessierter Laie mit Verbesserungsabsicht) derzeit am Anfang einer Bildungsreise. 😉

            Wegen deiner Frage nach den Emergent Practices: Ich hätte gesagt, dass eine Practice nicht per seh ein Rezept für eine Handlung beschreibt, sondern eben auch die eigentliche Handlung. Wenn ich also nun aus einer komplexen Situation heraus eine Reihe von Handlungen (nach dem Motto Entscheiden, Machen, Überprüfen, von vorn beginnen) initiiere, die mich zu einem bestimmten, hoffentlich nah an meinem Wunschresultat liegenden Situation führen, wäre das für mich eine emergente Praktik, also eine Praktik die aus dem Handeln heraus entstanden ist.

            Allerdings ist mir klar, dass das nicht reproduzierbar wäre, also dass die „emergente Praktik“ auch immer einmalig ist, weil die beeinflussenden Faktoren so wohl sicher nicht mehr eintreten werden.

            Gruß,
            Patrick

  5. danke für die gute und fundierte info. ich hab mit VUCA zwar nicht so haarsträubend naiv gearbeitet, werde diese gedanken gerne zum nutzen aller interssierten in meine darstellungen übernehmen.
    i-space kannte ich noch nicht, finde ich gut und interessant. im vergleich zu cynefin bin ich da eher pragmatisch. das eine hat vielleicht mehr tiefgang, dafür ist das andere für manche eingänglicher. denn selbst cynefin wird meist flasch interpretiert und dargestellt.
    danke für den beitrag!

  6. Ich bin allen Menschen dankbar, die das Internet auf DIESE Art und Weise nutzen. Gedanken teilen, sich austauschen, sich verbinden.
    Beste Grüße in die Runde von Menschen, die ich fast ausschließlich kenne, zumindest mittlerweile das Gefühl habe zu kennen.
    Nadja

  7. Rather ironic really as Max (Boisot) and I worked together extensively over many years and neither of us ever saw the I-Space and Cynefin as alternatives – they did different things. We even wrote about it in respect of epistemology (I-Space), Ontology (Cynefin) with more extensive mapping between the two.

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