Nur ein begeisterter Mann kann etwas Großes und über das Gewöhnliche Erhabenes aussprechen

Der Biologe Gerald Hüther erklärt auf youtube, wie er sich die Transformation von der jetzigen Ressourcenausnutzungskultur zu einer Potentialentfaltungskultur vorstellt1. Seine Prämissen lauten:

  1. Erfahrungen werden nur gemacht, wenn sie „unter die Haut gehen“, d.h. wenn neben kognitiven auch emotionale Momente beteiligt sind
  2. Aufgrund von Erfahrungen entstehen innere Überzeugungen, die man nur ungern aufgibt, weil sie eben emotional verankert sind
  3. Es sind diese inneren Überzeugungen, die verhindern, dass wir neue Potentiale erschliessen
  4. Neue Erfahrungen, die mit Begeisterung gemacht werden, können die inneren Überzeugungen „umpolen“ und unsere Potentiale aktivieren
  5. Ein Mensch kann sich nicht an sich selber begeistern. Er braucht Mitmenschen, die ihm seine schlummernden Potentiale zeigen und den Zugang zu Ressourcen öffnen, die einmal verschüttet wurden

Begeisterung im Management?

Die ersten drei Prämissen sind „alte Bekannte“. Sie dürften auch für das (Projekt-)Management von Bedeutung sein. In einem Interview mit dem Spiegel meint Hüther2:

Der eigentliche Schatz ist die Begeisterung am eigenen Entdecken und Gestalten, das Tüftlertum, die Leidenschaft, sich mit etwas Bestimmtem zu beschäftigen

Warum werden solche wichtigen Fähigkeiten in Assessments für Projektleiter und Manager nicht berücksichtigt?

Kazuo Inamori, der Gründer und Präsident von Kyocera, sagte dazu:

Ob Forschung und Entwicklung, Unternehmensführung oder irgend ein ander Aspekt des Geschäftslebens (z.B. auch Projekte, PA) – die aktive Kraft ist „der Mensch“. Und Menschen haben ihren eigenen Willen, ihre eigene Vorstellungen und ihre ganz eigenen Denkweisen….Die Leidenschaft [eines Forschers] seine Sehrsucht muss so stark sein, dass sie aus seinem Körper emporsteigt wie Dampf und wenn das, was verdunstet ist, sich schliesslich verdichtet…und wie Regentropfen zurückfällt, wird er feststellen, dass sein Problem gelöst ist

Das gilt genauso für Manager wie für Forscher, denn Manager müssen auch Forscher sein. Zitiert hat Inamori kein Geringerer als Peter Senge in seiner fünften Disziplin, in der er manche von Hüthers Ideen bereits 1990 vorwegnahm3.

Ich glaube unbedingt, dass begeistertes Tüfteln und die Fähigkeit, sich mit dem Projekt leidenschaftlich zu beschäftigen, wesentlich zum Projekterfolg beitragen werden. Sowohl die Elbphilharmonie als auch der Berliner Flughafen wären jetzt in Betrieb, wenn alle Projektbeteiligten stets mit Begeisterung daran gearbeitet hätten. Zwar gab es am Anfang in beiden Projekten Menschen, die mit Begeisterung das jeweilige Projekt formulierten und „verkauften“. In der Zwischenzeit jedoch ist diese Begeisterung grossem Frust gewichen. Warum das?

Potentialentfaltung

Prämisse 4 ist ebenfalls richtig. Psychologen haben erforscht, was geschieht, wenn Menschen ihre Meinung ändern und sind zum Schluss gekommen, dass wir frühere Überzeugungen nicht rekonstruieren können. Das führt dazu, dass wir gar nicht wahrnehmen, wie sich unsere Überzeugungen ändern. Dieser Rückschaufehler ist eine starke Heuristik. Sollten sich dadurch Potentiale auftun, wäre das rein zufällig.

Prämisse 5 muss ich widersprechen. Ich konnte meine Begeisterung, die gemäss Hüther alle Kleinkindern haben, über die begeisterungstötende Schulzeit hinaus bewahren, weil ich mir sagte: „Ich lasse die Lehrer reden und mache das Minimum an obligatorischen Hausaufgaben, damit sie mich nicht stören, wenn ich mich draussen Naturbeobachtungen hingebe, einen Radioapparat aus paar wenigen Elektronikteilen zusammen baue oder interessante chemische Experimente durchführe, was immer mich eben gerade begeistert“. Auch später tüftelte ich an den Themen herum, die mich fesselten und umging Chefs und Familie. Stets konnte ich meine Tüfteleien mit dem beruflichen Engagement verknüpfen, so wie z.B. meine chemischen Experimente, die ich zuhause in der Waschküche durchführte, auch der Schule zugute kamen. Daher hatte ich nie begriffen, warum einige Leute von „Hobbys“ redeten und Beruf und Freizeit so strikte trennten. Oder warum einige Leute die Pensionierung als „Ende des Berufsleben und Beginn ewiger (langweiliger?) Freizeit“ betrachten. Wer mit Begeisterung lebt, kann nicht in zwei strikte getrennten Welten leben. Neugier und Begeisterung haben mich mein ganzes Leben hindurch begleitet.

Insofern muss ich also Hüthers fünfte Prämisse in Frage stellen. Man kann sich sehr wohl an sich selbst begeistern! Weder brauche ich andere, die mich begeistern, noch möchte ich in den anderen ständig ihre Potentiale suchen und wecken.

Wir sind auch Lachse

Eine von Hüthers Feststellungen ist, dass Menschen glauben, nur ihre Überzeugungen seien richtig, während andere Standpunkte einfach nur bescheuert seien. Hüther ruft zu mehr Toleranz und Akzeptanz anderer Meinung auf. Das erinnert mich an Bohms Dialog4 oder an Nassim Talebs epistemische Arroganz5. Daniel Kahneman schreibt6:

Wir neigen dazu, die Konsistenz und Kohärenz dessen, was wir sehen, zu überzeichnen (S.141)…Unsere Intuitionen liefern Vorhersagen, die zu extrem sind, und wir werden dazu neigen, ihnen allzu grossen Glauben zu schenken (S. 248)….

Ich gebe Hüther recht, wenn er betont, dass unser Verhalten nicht genetisch zu entschuldigen sei. Er erzählt die Geschichte der Lachse, die hormongesteuert den Fluss hinauf „nach hause“ schwimmen, dort ablaichen und drei Tage danach sterben. Man hat herausgefunden, dass die Lachse an Stress sterben. Kaum Wasser, nichts zu fressen und übermässiges Gedränge stressen die Tiere dermassen, dass sie in der Folge umkommen. Lachse, die man nach dem Ablaichen und Besamen gefangen und ins Meer transportiert hat, lebten normal weiter und kamen ein Jahr später wieder den Fluss hinauf.
Wir sind eben nicht besser als Lachse. Es ist törich zu glauben, dass der Mensch eine Sonderstellung in der Natur einnimmt. Hang nach Bestätigung, narrative Verzerrung, Framing-Effekte und Basisratenfehler sind sinnvolle Funktionen unseres Gehirns, speziell der eher unbewussteren Teilen. Sie sind verantwortlich für die übermässige Kompetenzillusion, die alle Menschen erfüllt. Das Bewusstsein sieht keine Veranlassung, einzuschreiten.

Hüther schlägt vor, dass wir die Potentiale unserer Mitmenschen erkennen und an den Tag befördern sollen, anstatt auf unseren Überzeugungen zu beharren und die Mitmenschen für blöd zu erklären, die unsere Überzeugung nicht teilen. Psychologen haben aber gezeigt, dass Menschen von einem unerschütterlichen Glauben an eine Überzeugung, und sei sie noch so absurd, erfüllt sein können, wenn sie darin von einer Gruppe Gleichgesinnter bestärkt werden. Man wird sich also eher mit Gleichgesinnten umgeben, als Überzeugungsgegner aufzubauen. Die Illusion der Gültigkeit von Überzeugungen wird zusätzlich von einer mächtigen Berufskultur gestützt.

Begeisterung weicht dem Frust

Wir haben noch eine Frage offen! Am Schluss des Abschnitts Begeisterung im Management? habe ich gefragt, warum die anfängliche Begeisterung in Projekten einem mehr oder weniger grossen Frust weicht. Am Anfang sind alle total begeistert. Während der Arbeit lernen alle dazu und stossen auf Details, an die sie zuvor nicht gedacht haben. Eingesetzte Produkte und Materialien können sich als fehlerhaft herausstellen, so dass Lösungen gesucht werden müssen. Einmal implementiert bedingen diese Lösungen vielleicht, dass das weitere Vorgehen reformuliert werden muss. Man nennt das Pfadabhängigkeit. Das Schulbuchbeispiel für Pfadabhängigkeit ist die QWERTZ-Tastatur, die ursprünglich das Ziel hatte, den Schreibfluss zu bremsen, damit sich die Typen der Schreibmaschine nicht verheddern. Mittlerweile ist man an diese Tastatur gebunden, obwohl es effizientere gäbe. Aber alle lernen auf der QWERTZ-Tastatur zu schreiben und niemand will in das Umlernen auf die effizienteren Tastaturen investieren. In Kleine Schrägstriche – grosse Auswirkung habe ich ein anderes, sehr anschauliches Beispiel einer Pfadabhängigkeit beschrieben7.

Pfadbrüche kann man nicht einfach so veranlassen. Pfadbrüche haben nur in sogenannten Windows of Opportunity eine Chance. Sogar, wenn alle an der Entwicklung beteiligten Menschen hoch motiviert und absolut begeistert sind und alle ihre Potentiale zutage gefördert und ausgebildet haben, können Pfadabhängigkeiten nicht unbedingt durchbrochen werden. Genau aus diesem Grund weicht die Begeisterung oft dem Frust. Nur wer achtsam die Windows of Opportunity wahrnimmt und dann genau das Richtige macht, hat eine Chance, neuen Wind in die verfahrene Situation zu bringen. Ich würde daher eher ein Programm zur Förderung von Achtsamkeit empfehlen, als eines zur Förderung der Potentiale fremder Menschen.

Titel von Seneca

1Hüther, Gerald. Discover your potential (Deutsch). Entrepreneurship Summit 2012.

2Bleher, C. In jedem Kind steckt ein Genie. Interview mit dem Schulkritiker Gerals Hüther. Spiegel Online vom 21. August 2012.

3Senge, P. Die fünfte Disziplin. Schäffer-Poeschel, 11. Auflage. 2011

4Bohm, D. Der Dialog – Das offene Gespräch am Ende der Disksussionen. Klett-Cotta. 1998

5Taleb, Nassim N. Der Schwarze Schwan – Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. Hanser, 2007

6Kahneman, Schnelles Denken – langsames Denken. eBook aus dem Siedler Verlag. München 2011.

7Addor, P. Kleine Schrägstriche – grosse Wirkung. Dieser Blog, Oktober 2009. 

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