Ein Beispiel für die Bildung einer eher abstrakten komplexen Struktur ist das Zustandekommen einer öffentlichen Meinung. Kontrollparameter sind z.B. Veränderungen der wirtschaftlichen Lage oder Überhandnehmen eines innenpolitischen Drucks. Solche Veränderungen erschüttern das Vertrauen in eine bisherige Meinung. Dadurch wird das System instabil. Es bilden sich zunächst eine Menge konkurrenzierender Alternativmeinung aus. In dieser Situation kann eine einzelne Gruppe von Menschen, von Avantgardisten oder aktiven Revolutionären, ja manchmal sogar einzelne Individuen zum Kristallisationspunkt einer neuen Meinung werden. Hermann Haken schreibt: Unvorhersehbare, scheinbar lokale Ereignisse bekommen bei einem Zustand der Instabilität eine enorme Ausstrahlungskraft, die sie in normalen Zeiten nie gehabt hätte. In jenen Zeiten wäre die Aktionen derartiger einzelner Gruppen eine schnell vergessene Episode geblieben.1 Die vorherrschende öffentliche Meinung ist eine Mode, die die Bürger „versklavt“. Ist aber einmal eine solche Mode zustande gekommen, muss sie laufend genährt werden, um zu bestehen. Die komplexe, relativ stabile Struktur eines Systems, ist nie statisch. Sie fällt in sich zusammen, wenn sie nicht durch Energie, Material und/oder Information genährt wird. Umgekehrt muss eine Gesellschaft, die soviel Strom, Benzin, Erdöl, Zeitungen, Batterien, Fernseher, News, Inetrnet, Mails, etc. konsumiert und verarbeitet, zwangsläufig einen hohen Komplexitätslevel haben.
Wenn Projekte als instabile und chaotische Phasen angesehen werden, die einer Veränderung vorangehen, dann können also kleinste zufällige Ereignisse enorme Ausstrahlungskräfte auf das Projekt entwicklen. Wie reagiert ein Projektmanager in dieser Situation? Eigentlich sollte er ständig auf der wissensbasierten Ebene agieren. Tut er das? Dietrich Dörner hat herausgefunden, dass die Menschen in fluktuativen, unsicheren Situationen hauptsächlich zwei Verhaltensweisen zeigen, die für das Projekt nicht immer förderlich sein müssen2. Den ersten Verhaltensmodus nennt er Thematisches Vagabundieren. In fluktuativen Zeiten erreichen uns zahlreiche Hiobsbotschaften. Wenn wir beginnen, uns mit der Schadensbegrenzung des ersten Ereignisses zu beschäftigen, trifft die nächste Hiobbotschaft ein, bevor wir fertig sind. Da in unserer Wahrnehmung immer gerade das aktuellste Thema auch das wichtigste zu sein scheint, und da wir unsere Unfähigkeit erahnen, das erste Ereignis befriedigend in Griff zu bekommen, verlassen wir es und starten sofort Schadenbegrenzungsaktionen für das neu aufgetauchte Ereignis. Immer wenn der (Projekt-)Manager Schwierigkeiten im Umgang mit einem Thema hat, lässt er es fallen, so dass er seiner eigenen Hilflosigkeit nicht mehr als nötig gegenüberstehen3 muss.
Den zweiten Verhaltensmodus, den Dörner nachwies, nennt er Reduktive Hypothesenbildung. Alle Phänomene werden einer einzigen Ursache zugeschrieben. Ich selbst habe einmal in einem sehr fluktuativen Projekts den kleinkarierten Charakter des Kunden als einzige Ursache für den harzigen Fortschritt identifiziert. Ein Beispiel für eine reduktive Hypothesenbildung ist die Dolchstosslegende, nach der es angeblich die Juden, Jesuiten und Freimaurer waren, die für die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg verantwortlich waren. Und jener absonderliche Hagelschlag im Sommer 1953 wurde damals auf die Atombomberversuche zurückgeführt. Verkürzten oder reduktive Hypothesen sind sehr attraktiv. Sie reduzieren mit einem Schlag die Unsicherheit und verstärken das Gefühl, man verstehe, was vor sich geht. Dörner schreibt: Wenn man einmal zu wissen meint, was die Welt im Innersten zusammenhält, so gibt man ein solches Wissen ungern auf. Informationen, die einer reduzierten Hypothese zuwider laufen, werden einfach nicht zur Kenntnis genommen. Im Endeffekt verschanzt sich der Manager hinter einem dogmatischen Hypothesengerüst, welches die Realität in keinster Weise abbildet (Dogmatische Verschanzung4). Wir kennen das auch von Leuten, die angesichts der Komplexität der modernen Welt in fundamentalreligiöse oder esoterische Ideen flüchten. Können Sie sich vorstellen, wie sich die reduzierte Hypothese eines (Projekt-)Managers auf ein Projekt oder eine Unternehmung auswirkt? Beide Verhaltensweisen befolgen einfache Regeln. „Wenn Du einsiehst, dass Du nicht fähig bist, das Problem zu lösen, dann widme Dich einem anderen Thema“ und „Wenn die Situation unübersichtlich und unbestimmt ist, dann suche einen einfachen, zentralen Grund für die Probleme und reduziere alles auf diesen“. Letztere Regel verhindert, dass Unbestimmtheit Angst erzeugt, eine vor 100’000 Jahren sehr nützliche Regel. Wer aber als Projektmanager in komplexen Situationen diese Regeln anwendet, der nutzt sein wissensbasiertes Potential nicht aus!
1Hermann Haken. Erfolgsgeheimnisse der Natur – Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken. Deutsche Verlags-Anstalt. Stuttgart 1981.
2Dietrich Dörner. Die Logik des Misslingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Reinbek bei Hamburg 1994.
3Dietrich Dörner. On the difficulties people have in dealing with complexity. In J. Rasmussen, K. Duncan and J. Leplat (Eds.). New Technology and Human Errors. Wiley, London 1987
4Harald Schaub. Störungen und Fehler beim Denken und Problemlösen. In J. Funke (Hrsg.). Denken und Problemlösen. Enzyklopädie der Psychologie: Kognition – Band 8. Hogrefe Verlag, Göttingen 2006
Schaub gibt hier eine erschöpfende Zusammenstellung von Kognitionsfehler im Umgang mit Komplexität. Lassen Sie sich aber von der langen Liste nicht entmutigen. Viele der Fehler sind identisch oder hängen sehr stark miteinander zusammen. Wem sie bekannt sind, der kann sie klassifizieren und erkennt sie in fluktuativen Situationen wieder.